Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Dritter Band. Weltkrieg und Zusammenbruch. (3)

DER FETZEN KONGO 111 
unpersönlichen Prüfung der allgemeinen Weltlage wie der heimischen Ver- 
hältnisse konnte nicht entgehen, daß mancher ernste Grund zur Sorge vorlag. 
Unser völliger Verzicht auf Marokko, der durch das Kongu-Abkommien 
besiegelt worden war, bedeutete für Deutschland, dessen blühender Handel 
mit Marokko dem Frankreichs damals kaum nachstand, einen nicht uner- 
beblichen wirtschaftlichen Verlust und für Frankreich eine beträchtliche 
Verstärkung seiner Wehrkraft durch kriegstüchtiges Material, an dem es 
den Franzosen zu mangeln anfıng. Nach dem Lärm, den der Panthersprung 
nach Agadir in der ganzen Welt hervorgerufen hatte, erschien der von uns 
mit Hängen und Würgen erlangte Fetzen Kongo als eine mehr denn be- 
scheidene Kompensation. Und dabei hatten wir uns dem nicht ganz unbe- 
rechtigten Vorwurf ausgesetzt, wir hätten die Notlage eines unter unserem 
Schutze stehenden Landes zu eigener Bereicherung benutzt. Ich hatte dar- 
über schon im Februar 1913 an Ernst Bassermann aus Rom geschrieben: 
„Die Voraussetzungen, die uns veranlaßten, 1911 aus Marokko hinaus- und 
in die Kongosümpfe hineinzugehen, haben sich nicht erfüllt, Die uns da- 
mals in Aussicht gestellte Verbesserung unserer Beziehungen zu Frankreich 
ist nicht eingetreten. Nach Konzessionen, Avancen und Liebenswürdig- 
keiten aller Art ist die Stimmung in Frankreich gegen uns gehässiger, als 
sie seit 1871 war. Sie zeigt sich nicht nur in gewaltigen, bis dahin kaum für 
möglich gehaltenen militärischen Anstrengungen der Franzosen, sondern 
tritt auch prägnant in der Entsendung von Delcasse nach St. Petersburg 
hervor, die wenigstens im Ausland, im Gegensatz zu unseren abwiegelnden 
ofiziösen Pressestimmen, als ein bedeutsames Symptom eingeschätzt wird. 
Die in den letzten Jahren so viel selbstbewußter gewordene Stimmung der 
Franzosen wirft ihre Schatten auf Elsaß-Lothringen.“ 
Noch bedenklicher war die infolge der Balkankriege auf der Balkan- 
halbinsel eingetretene Verschiebung, die eine einschneidende und bei unvor- 
sichtiger deutscher Politik für uns gefährliche Wendung bedeutete. Als in 
Rom, in der Consulta, die Meldung eingelaufen war, daß Deutschland völlig 
und endgültig auf Marokko verzichtete, zog der italienische Minister des 
Äußern, der Marchese San Giuliano, die Uhr, bezeichnete, wie er mir selbst 
erzählt hat, die Stunde und den Tag und erklärte vor seinen Sekretären, 
jetzt müsse Italien nach Tripolis gehen, wozu bis dahin in Rom wenig 
Lust vorhanden gewesen war. Die italienische Tripolis-Expedition gab den 
Anstoß zu den Balkankriegen, über deren Entstehung und Ergebnis ich am 
28. Februar 1913 aus Rom an Bassermann geschrieben hatte: „Auf dem 
Wege, der von Agadir über Tripolis zum Balkankriege führte, haben wir in 
zwei rasch aufeinanderfolgenden Krisensommern materielle Werte verloren, 
auch die Gesamtsituation ist prekärer geworden, und unser Ansehen hat 
gelitten. Es war verhängnisvoll, daß Wien dem Orientkrieg nicht entweder 
Der Kongo- 
Vertrag 
Balkankrise 
und Tripolis
	        
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