116 DER LEVIT, DER VORÜBERGING
Ich finde diese Darstellung, obgleich sie mir im einzelnen nicht neu war, im
ganzen doch durch ihre Klarheit und innere Überzeugungskraft wie neu
wirkend. So wie sie ist, könnte sie wohl in die Hände Seiner Majestät gelegt
werden, aber es wären Streichungen und Zusätze nötig. Doch ist zunächst
nicht daran zu denken! Übrigens wäre, wie mir immer klarer geworden ist,
nicht Herr v. Valentini, sondern der Reichskanzler die richtige Mittels-
person; denn jener ist durch seine Stellung zu gebunden. Ich werde diesen
Weg im Auge behalten. Verehrungsvoll A. H.“ Der Hofpfaffe Seiner Maje-
stät, wie ihn der baumlange Generaladjutant von Scholl zu nennen liebte,
machte es nicht wie der Samariter, der dem Mann zu Hilfe kam, der, als er
von Jerusalem hinab gen Jericho zog, unter die Räuber gefallen war, die
ihn auszogen und schlugen. Statt dem Armen Öl und Wein in seine Wunden
zu gießen, nahm sich Harnack den Leviten zum Vorbild: „Da der Levit
kam zu der Stätte, ging er vorüber“ (Ev. Lucä 10, 32).
Wenn Wilhelm II. selbst den bestgemeinten Warnungen und Rat-
schlägen gegenüber taub blieb, so gebietet doch die Gerechtigkeit, nicht zu
verschweigen, daß auch die öffentliche Meinung in Deutschland in jenen
Jahren wenig geneigt war, auf die Mahnungen eines entamteten Ministers
zu hören. Meine Sorgen und Bedenken aber wollten mich nicht verlassen.
Aus Paris schrieb mir eine dort mit einem Franzosen verheiratete lang-
jährige deutsche Freundin: Es sehe in der Welt schon recht anders aus als
während meiner Kanzlerzeit. Insbesondere in Frankreich sei der „‚Sozialist“*
Millerand bemüht, in jeder Weise den militärischen Geist zu erwecken. „Der
schlummert ja auch nur in dem Lande, das von jeher eine begeisterte Zärt-
lichkeit für seine roten Hosen besaß.‘“ Noch mehr beeindruckte mich ein
Brief des alten Geheimen Rats Mechler, der unter Bismarck, Caprivi,
Hohenlohe und mir mit immer gleicher Treue das Zentralbüro des Aus-
wärtigen Amtes geleitet hatte, mit Herbert Bismarck und Holstein, mit
Kiderlen und Marschall gleich gut ausgekommen war. Er hatte in seiner
fast fünfzigjährigen Amtszeit viel gesehen, viel erlebt. Mit dem Chor in der
„Braut von Messina‘ konnte dieser vorbildliche Beamte von sich sagen:
Die fremden Eroberer kommen und gehen,
Wir gehorchen, aber wir bleiben stehen.
Geheimrat Mechler schrieb mir am Neujahrstage 1914: „Ob das Jahr
mit der ominösen Zahl 13 nicht weit mehr Enttäuschungen, Unglück und
Trübsal als erfüllte Hoffnungen, Glück und Freude gebracht hat, läßt sich
in Wahrheit wohl schwer sagen. Für meinen Gesichtskreis habe ich das
Empfinden, daß es sich als ein unheilbringendes bewahrheitet. Jedenfalls
trifft dieses zu für die Geschicke der Völker und unseres deutschen Vater-
landes im besonderen; und ein patriotisches deutsches Herz muß wünschen,