124 SCHÖN WETTER
das war das Gefährlichste an dieser Wahl, sehr nervös, ein Neurastheniker.
Und gerade nach London gehörte ein Vertreter mit festen Nerven und
kaltem Blut. Die fünf Vorgänger des neuen Botschafters, Albrecht
Bernstorff, Münster, Paul Hatzfeldt, Metternich und Marschall, hatten
jeder seine Schwächen, aber sie zeichneten sich alle durch eine Ruhe aus,
die Lichnowsky fehlte. Der langjährige bayrische Gesandte in Berlin, Graf
Hugo Lerchenfeld, ein intimer Freund von Lichnowsky, meinte nach
dessen Ernennung zu mir: „Lichnowsky ist kein Kapitän für stürmische
Fahrt, aber bei heiterem Himmel und ruhiger See wird er seine Sache ganz
nett machen. Und das Barometer steht ja, wie mir.der Reichskanzler immer
wieder versichert, gottlob auf schön Wetter.‘
Das war damals die allgemeine Wetterprognose, und sie schien nicht
ganz unberechtigt. Wäre die Politik im Sommer 1914 in allen europäischen
Zentren, insbesondere in Wien und Berlin, mit mehr Vorsicht, mehr
Einsicht, mehr Umsicht, vor allem mit größerer Geschicklichkeit geleitet
worden, so wäre nach menschlicher Voraussicht Europa nicht bald nachher
in eine der furchtbarsten Katastrophen der Geschichte, in eine Welt-
katastrophe getaumelt. Wie ich schon erwähnt zu haben glaube, schrieb ein
Bethmann Hollweg besonders nahestehender und für ihn begeisterter
Publizist, Professor Dr. Hans Delbrück, im November 1913: Frankreich
habe sich, aus unbegründeter Besorgnis vor uns, die drückende Last der
dreijährigen Dienstzeit aufgebürdet. Das habe aber nicht verhindert, daß
sich die Franzosen während der letzten Orientkrisis der zwischen uns und
ihnen namentlich in bezug auf Griechenland bestehenden Interessen-
gemeinschaft bewußt geworden seien, während Rußland an die Franzosen
politische Forderungen stelle, die diesen durchaus widerstrebten. So sei
zwischen Deutschland und Frankreich eine erfreuliche Entspannung ein-
getreten. An den freundschaftlichen Beziehungen, die sich in der letzten
Zeit zwischen uns und England gebildet hätten, würde auch der Fortgang
der deutschen Schiffsbauten nichts verderben. Der Erfolg sei auch hier eine
gewisse Entspannung, eine Abschwächung der Gegensätze innen und außen.
Der Historiker Erich Marcks schloß eine bei der Reichsfeier der nationalen
Vereine in München am 16. Januar 1914 gehaltene Rede mit den Worten:
„Wir blicken heute in die Welt, und wir müssen erkennen, die Wolken
draußen sind lichter geworden. Die schwersten Zeiten für unseren Eintritt
in die Welt liegen, so dürfen wir vertrauen, hinter uns. Der Druck der
Krisen ist schwächer geworden, Deutschland rührt sich freier. Wir haben
erreicht, daß man die Tatsache unserer Weltexistenz und unserer Seegewalt
hinnimmt wie einst die unserer kontinentalen.“
Kaisers G- Am 27. Januar 1914, der letzten Kaisers-Geburtstagsfeier vor dem
buristog 1914 Ausbruch des Weltkrieges, hielt der Botschafter Flotow, der besondere