„EIN KURZES GEWITTER"“ 171
habe nicht die Kraft besessen, seine bessere Einsicht gegen mancherlei
Widerstände durchzusetzen. Im Reichsschatzamt seien kleinliche und
engherzige Ressortbedenken erhoben worden, die in einer solchen Lebens-
frage natürlich in den Hintergrund treten mußten. Bethmann Hollweg sei
kein Kanzler, der nach großen Gesichtspunkten urteile und seine Ent-
schlüsse energisch durchzudrücken wisse. Bei unserm Alliierten sei noch
mehr versäumt worden. Österreich-Ungarn, dem zuliebe wir zum Schwert
griffen, sei infolge seiner zerfahrenen inneren Verhältnisse und unter
schwachen und immer schwächer werdenden Regierungen mit seinen
militärischen Rüstungen und Heeresvermehrungen weit, sehr weit unter
der Grenze des Möglichen geblieben.
Wedel wies auch schon im August 1914 darauf hin, daß die Entente,
die das Meer beherrsche, bessere Möglichkeiten habe, sich zu verpro-
viantieren, als das dicht bevölkerte und auf cine erhebliche Nahrungs-
mitteleinfuhr angewiesene Deutschland. Die Entente besitze für die
Vermehrung und Ergänzung ihrer Heere und ihres Kriegsbedarfs größere
und ergiebigere Quellen als Mitteleuropa. Wedel, und ich teilte diese
seine Auffassung, glaubte nicht wie Bethmann Hollweg, daß der Krieg
nicht lange dauern, daß der nunmehr ausgebrochene Weltkrieg nur „ein
kurzes Gewitter‘ sein würde. Wir fragten uns beide, ob der auf große
Warenimporte eingerichtete Bau der deutschen Volkswirtschaft einer
langen Kriegsdauer widerstehen würde. Ich gab der Besorgnis Ausdruck,
daß bei der Unbeholfenheit und gleichzeitigen Schwäche unserer politisch-
diplomatischen Leitung Italien, Rumänien und schließlich sogar die Ver-
einigten Staaten sich unseren Gegnern anschließen würden. Wedel be-
dauerte auch, daß in so ernster Zeit zwischen Diplomatie und Generalstab
die enge Fühlung, die ich wie mit Schlieffen so auch mit Moltke unterhalten
hätte, nicht mehr bestände. Das Verhältnis zwischen Bethmann Hollweg
und Moltke sei mehr als kühl. Beide seien empfindliche Naturen und
schlössen sich mehr als gut voneinander ab.
Während seiner Unterredungen mit dem Generalstabschef hatte Wedel
mit Besorgnis wahrgenommen, daß dessen Gesundheitszustand nicht der
beste war. Moltke hatte ihm erzählt, daß er einen schweren Ohnmachts-
anfall erlitten habe infolge eines politischen, „Mißverständnisses“, das aller-
dings die Kopflosigkeit und das ganze Durcheinander unserer damaligen
Leitung in wahrhaft erschreckender Weise zutage treten ließ. Am 1. August,
also einen Tag nach Verhängung des „Zustandes drohender Kriegsgefahr“
über Deutschland, wenige Stunden vor der Erklärung der endgültigen
Mobilmachung, war ein Telegramm des deutschen Botschafters in London
eingetroffen. Fürst Lichnowsky hatte in diesem Telegramm gemeldet,
England sei bereit, die Neutralität Frankreichs zu garantieren, wenn
Telegramm
Lichnoroskys
über Neutrali-
tätsangebot
Englands