Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Dritter Band. Weltkrieg und Zusammenbruch. (3)

172 LICHNOWSKYS MISSVERSTÄNDNIS 
letzteres nicht von Deutschland angegriffen würde. Diese Meldung war von 
Kaiser Wilhelm wie vom Kanzler Bethmann nicht nur mit einem tiefen 
Seufzer der Erleichterung, sondern mit fast jubelnder Freude aufgenommen 
worden, die ebenso für beider Friedensliebe wie für ihre politische Ahnungs- 
losigkeit sprach. Der Kaiser ließ sogleich den Chef des Generalstabs 
kommen und befahl ihm, den Aufmarsch gegen Frankreich zu stoppen; die 
ganze Armee solle sofort die Front gegen Rußland nehmen. Als Moltke 
darauf hinwies, daß durch diesen Eingriff völlige, heillose Unordnung mit 
unberechenbaren Konsequenzen hervorgerufen und die ganze Mobil- 
machung gestört werden würde, wurde er vom Kaiser hart angelassen, der 
einen seiner Flügeladjutanten anwies, der bereits auf Luxemburg mar- 
schierenden sechzehnten Division den direkten Befehl Seiner Majestät zu 
übermitteln, augenblicklich haltzumachen. In Übereinstimmung mit 
Betlimann, der triumphierend ausrief, er habe sich also doch nicht in den 
Engländern getäuscht, richtete der Kaiser ein Telegramm an den König 
Georg von England, in dem er den englischen Vorschlag mit Freude und 
Dank annahm. Wenn England sich mit seinen Streitkräften für die Neutrali- 
tät Frankreichs einsetze, übernehme er, Kaiser Wilhelm, die Verpflichtung, 
die französische Grenze bis zum 3., abends 7 Uhr, nicht zu überschreiten. 
In der Nacht vom l1.zum 2. August traf beim Kaiser die Antwort seines 
Vetters, des Königs von England, ein. König Georg erklärte, daß er die 
Vorschläge des Kaisers überhaupt nicht verstünde; es könne sich 
nur um ein grobes Mißverständnis des deutschen Botschafters handeln. 
In der Tat hatte Fürst Lichnowsky eine telephonische Mitteilung aus 
dem Foreign Office nicht richtig verstanden. Statt nun, wie es das ABC 
des diplomatischen Handwerks gebot, so rasch wie möglich Sir Edward 
Grey aufzusuchen, um sich Gewißheit zu verschaffen, hatte der durch 
die Krisis der letzten Tage völlig demoralisierte Botschafter ohne weiteres 
das vermeintliche Neutralitätsangebot Englands nach Berlin gemeldet. 
Der Kaiser, der, als die Antwort des Königs Georg in Berlin eintraf, schon 
im Bette lag, wurde mit dem betrüblichen Telegramm seines Vetters 
durch seinen Leibjäger, den trefflichen Schulz, aus dem ersten Schlummer 
geweckt. Er ließ sogleich Moltke kommen, empfing ihn in Unterhosen und 
sagte ihm, daß es mit dem englischen Neutralitätsanerbieten leider nichts 
sei, die Mobilmachung müsse ihren Fortgang nehmen. Moltke versicherte 
dem Fürsten Wedel, daß die durch dieses kaum glaubliche Quidproquo 
hervorgerufene Erschütterung ihm den Lebensnerv durchschnitten habe. 
Er habe plötzlich die Empfindung gehabt, vor einem Abgrund zu stehen. 
Er habe das Gefühl, damals einen Schlagfuß erlitten zu haben. Gewiß 
eine Übertreibung, aber ein Zeichen, daß der arme Moltke physisch und 
psychisch ein schwerkranker Mann war.
	        
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