176 EIN VERHÄNGNISVOLLES WORT
Staatsmann, daß wir mit dem Einmarsch in Belgien ein Unrecht begingen,
daß aber Not kein Gebot kenne. Die Stunde, in der ich diese Rede las, wird
mir unvergeßlich bleiben, denn selten in meinem Leben habe ich einen
solchen Seelenkrampf empfunden. Ich verstand, was die Leute aus dem
Volke, was die Kinder meinen, wenn sie sagen: „Das Herz stand mir still.‘
Ich fühlte, daß wir uns mit dieser programmatischen Erklärung a priori
alle Imponderabilien verscherzt hatten, daß wir nach dieser unqualifizierbar
einfältigen Rede die öffentliche Meinung der ganzen Welt gegen uns haben
würden. Und am Abend desselben Unglückstages, des 4. August 1914,
bezeichnete der deutsche Reichskanzler in seiner Unterredung mit dem
englischen Botschafter, Sir Edward Goschen, die internationalen Verträge,
auf denen die Neutralität Belgiens beruhte, als einen Fetzen Papier, un
chiffon de papier, a scrape of paper. Seit jenem 15. Juli 1870, wo dem
französischen Ministerpräsidenten, Emile Ollivier, im Pariser Corps legis-
latif das Wort caur leger entfuhr, war kein verhängnisvolleres Wort
gesprochen worden. Ollivier, der in öffentlicher Parlamentssitzung von dem
leichten Herzen gesprochen hatte, mit dem er in den Krieg zöge, blieb
nichts anderes übrig, als den, übrigens mißlungenen, Versuch zu machen,
sich in einem dickleibigen Buch zu diskulpieren. Für Bethmann Hollweg,
der seine Dummheit unter vier Augen von sich gegeben hatte, lag die Sache
erheblich einfacher und leichter. Man brauchte wahrhaftig kein Macchiavelli
zu sein, um zu begreifen, daß, wenn Bethmann Hollweg seine unselige
Äußerung in einem Augenblick seelischen Zusammenbruchs wirklich
gemacht hatte, die Staatsräson und die höchsten Interessen der Nation
ihm geboten, sie umgehend und kategorisch dementieren zu lassen. Es
stand Behauptung gegen Behauptung, der Negation kam der gleiche Wert
zu wie der Affirmation. Bethmann durfte das deutsche Volk nicht mit diesem
fürchterlichen Wort belasten, das die Entente während des ganzen Welt-
krieges und bis zum Frieden von Versailles mit systematischer Ausdauer
der öffentlichen Meinung der Welt einhämmerte, um Deutschland als
ruchlosen Vertragsbrecher hinzustellen und einem solchen Volke gegenüber
besondere Schutzmaßnahmen als notwendig erscheinen zu lassen. Man
denke sich Bismarck, man denke sich auch nur Talleyrand oder Metternich
in einer solchen Situation! Wie ganz anders war die Haltung, die Fürst
Clemens Metternich gegenüber einem Napoleon in der berühmten Dresdener
Unterhaltung von 1813 zur Schau trug, wie anders das Auftreten des
Fürsten Talleyrand in seiner von ihm selbst in seinem bekannten Bericht
an Louis XVIII wiedergegebenen Unterredung mit Kaiser Alexander I.
1814, während des Wiener Kongresses: Metternich ganz der Grandseigneur,
der nie aus der Fassung gerät, Talleyrand der geschickte Diplomat, der
sich mit Takt, mit Aplomb und in guter Form aus jeder Affäre herauszieht.