Statt Moltkes
Falkenhayn
184 DAS MARNE-WUNDER
stimmung brachte. Als die Lage au der französischen Front immer
kritischer wurde, hätte Moltke selbst die drei Armeen des rechten Flügels
aufsuchen müssen, um sich de visu über den Stand der Dinge zu unter-
richten und die Einheitlichkeit der Kampfhandlung sicherzustellen. Statt
dessen entsandte er in der entscheidenden Stunde, am 8. September, einen
Abteilungschef seines Stabes, den Oberstleutnant Hentsch, zu den drei
Armeen des rechten Flügels, legte die Entscheidung in dessen Hand, er-
wähnte in seiner letzten mündlichen Instruktion an ihn die Möglichkeit
eines Ausweichens, gab sogar Hinweise für die Richtung eines erforderlich
werdenden Rückzuges. Von allen Offizieren seines Stabes war Hentsch
derjenige, bei dem die angeborene Farbe der Entschließung am meisten
von des ängstlichen und schwankenden Gedankens Blässe angekränkelt
war. Gerade darum war er dem Chef sympathisch. Als Hentsch, dem das
Schicksal der Schlacht, des Feldzuges, der Armee, des Landes in die Hand
gegeben war, bei dem Oberkommando der zweiten Armee eine ungünstige
Auffassung der Lage vorfand, empfahl er deren Führer, dem General-
feldmarschall von Bülow, Zurückgehen in nordöstlicher Richtung. Un-
mittelbar nachher drängte er den Oberkommandierenden der ersten Armee,
den Generaloberst v. Kluck, den er inzwischen aufgesucht hatte, gleich-
falls zum Rückmarsch. Die Franzosen und Engländer fühlten sich so wenig
als Sieger, daß sie den Rückzug der Deutschen nicht störten. Erst später
konstruierten französische Ruhmredigkeit und französische Gewandtheit
das „Marne-Wunder“, „Le Miracle de la Marne“, das Frankreich und, wie
die Franzosen behaupten, die ganze Welt vor deutscher Raubsucht und
Eroberungslust gerettet habe.
Wohl mußte den Franzosen, deren Regierung am 2. September, vier-
undvierzig Jahre nach dem Tage von Sedan, fluchtartig Paris verlassen
und ihren Sitz nach Bordeaux verlegt hatte, der plötzliche Rückzug der
Deutschen wie ein Mirakel erscheinen. Wunderbar, verwunderlich und
entsetzlich war aber vor allem, daß der Nachfolger von Moltke I und
Schlieffen so gar nicht auf der Höhe seiner Vorgänger stand. Unter dem
Druck der auf ihm lastenden Verantwortung war er zusammengebrochen.
Seinen kraftlosen Händen war im entscheidenden Augenblick die Führung
entglitten. Truppe und Unterführer hatten gesiegt, die oberste Heeres-
leitung hatte versagt. Moltke soll gehofft haben, daß die Zurücknahme des
rechten Flügels nach einigen Tagen durch eine neue Offensive wettgemacht
werden könnte. Ich hörte, daß er mit der dritten, vierten und fünften
Armee die Vorwärtsbewegung wieder in Gang bringen wolle. Aber schon
am 10. September wurde dieser Gedanke wieder aufgegeben, am 11. Sep-
tember erschien ihm sogar das Ausharren dieser Armeen in ihren augen-
blicklichen Stellungen untunlich, und auch für sie wurde der Rückzug