190 ITALIEN ENTZIEHT SICH
Unter dem Einfluß von Moltke, der eine Verständigung Österreich-Ungarns
mit Italien aus militärischen Rücksichten für dringend wünschenswert hielt,
fand Bethmann am 26. Juli den Mut zu einem Telegramm nach Wien, be-
ruhigte sich aber bald, als Berchtold ihn kühl und hochmütig abfallen ließ.
Der Staatssekretär Jagow, noch austrophiler als sein Chef, erklärte dem
österreichischen Botschafter Szögyenyi, Berchtold habe eigentlich ganz
recht, den italienischen Forderungen gegenüber die kalte Schulter zu zeigen.
Am29, Juli eröffnete San Giuliano dem österreichischen wie dem deutschen
Botschafter, daß, wenn Österreich sich nicht sehr bald zu Kompensationen
an Italien entschließe, sein Vorgehen Italiens Interessen verletzen und der
italienischen Regierung die Unterstützung Wiens unmöglich machen würde.
Mit kaltblütiger Offenheit, mit einer „Desinvoltura‘“, die den Beifall des
Macchiavelli gefunden hätte, fügte San Giuliano hinzu, Italien könne sich
nur von seinen Interessen leiten lassen. Das hätte sich Wien und hätte sich
namentlich Berlin von vornherein sagen müssen. Änders hatte sich die
italienische Regierung auch während des Deutsch-Französischen Krieges
nicht verhalten, wo sie, unbekümmert um früher gegen Frankreich ein-
gegangene Verpflichtungen, die Franzosen im Stiche ließ, als das italienische
Interesse, das damals die Krönung der italienischen Einheit durch die Be-
sitzergreifung Roms bot, diese Schwenkung empfahl. „Pour un diplomate,
il est fort important de savoir retirer a temps son €Epingle du jeu‘“, pflegte
der kluge Marquis Emilio Visconti-Venosta zu sagen. Und Bismarck hat es,
wie ich schon früher erwähnt habe, als die Pflicht eines leitenden Ministers
bezeichnet, sich in tunlichst guter Form den Verpflichtungen eines Bünd-
nisses zu entziehen, wenn durch deren Erfüllung das eigene Staatsinteresse
geschädigt würde.
An demselben 29. Juli sagte der Privatsekretär Greys, Mr. Tyrrell,
warnend dem deutschen Botschafter Lichnowsky, Italien werde sich im
Falle einer Ausdehnung des Konfliktes zwischen Österreich-Ungarn und
Serbien vom Dreibund abwenden. Vierundzwanzig Stunden später riet
der österreichische Botschafter Merey, von Berchtold um seine Ansicht be-
fragt, seinem Chef dringend ab, sich auf irgendwelche italienischen Kom-
pensationswünsche einzulassen. Direkte Telegramme des Kaisers Wilhelm
nach Wien und Rom, in denen er gleichzeitig an die Bundestreue des Königs
Viktor Emanuel appellierte und dem alten Kaiser Franz Josef Entgegen-
kommen gegenüber den Wünschen Italiens anriet, blieben ohne Erfolg.
Persönliche Kundgebungen des Kaisers Wilhelm II. waren seit sechsund-
zwanzig Jahren zu häufig bald in dieser, bald in jener Richtung erfolgt, um
noch wirken zu können. Unbeeindruckt durch das kaiserliche Eingreifen,
erklärte San Giuliano dem Botschafter Flotow, Italien könne den Bündnis»
fall nicht anerkennen, da das Vorgehen Österreichs gegen Serbien ein