196 VERLORENES TERRAIN
machen. Als der Krieg zwischen uns und Rußland ausbrach, geriet Flotow
als Gatte einer mit allen Erinnerungen, Gewohnheiten und Traditionen
eines langen Lebens und auch pekuniär ganz und gar in Rußland wurzeln-
den Frau und mit einem im russischen Heer gegen Deutschland fechtenden
Stiefsohn gegenüber der deutschen Kolonie in eine peinliche, gegenüber der
italienischen Gesellschaft und seinen Kollegen in eine mindestens seltsame
Situation. Dies und sein Gesundheitszustand, mag es sich nun in letzterer
Beziehung um imaginäre oder um reelle Krankheit handeln, haben jeden-
falls seine Leistungsfähigkeiten so sehr eingeschränkt, daß er den Schwierig-
keiten der Lage nicht gewachsen war. Dies gilt insbesnudere von den
kritischen Wochen unmittelbar vor und nach der Kriegserklärung, wo es,
wie mir von kompetenten Beurteilern versichert wurde. bei größerer Tat-
kraft und besserer persönlicher Position unseres Vertreters in Rom wohl
möglich gewesen wäre, eine aktive italienische Kooperation zu erreichen.
Seitdem haben wir fortgesetzt an Terrain verloren. In diesem Sinne haben
sich mir gegenüber eine Reihe wirkliche Kenner der italienischen Verhält-
nisse mit Bestimmtheit ausgesprochen. Esscheint, daßschon Verhandlungen
zwischen Italien und England im Gange, weon nicht abgeschlossen sind,
damit Italien im Frühjalır unter dem Vorwand, der türkische Vormarsch '
gegen Ägypten gefährde seine Interessen in Erythräa, der Cyrenaika und
in Tripolis, der Türkei den Krieg erkläre und so automatisch an die Seite
unserer Gegner geführt werde. Ich habe aber nie zu den Schwarzsehern
gehört, und wenn ich mir auch nicht verhehle, dat jetzt unter vielfach
trügerischer Oberfläche die wirkliche Sachlage in Italien keineswegs eine
sichere und erfreuliche ist, so ist das für mich nur ein Sporn und ein Grund
melır, zu tun, was in meinen Kräften steht, um verlorenes Gebiet zurück-
zuerobern und jedenfalls das Schlimmste abzuwenden. Ich rechne hierbei
auf Ihre freundschaftliche Unterstützung und bin in alter Gesinnung Ihr
aufrichtig ergebener Fürst von Bülow.“
Es war Ballin, der, als ich ihm diesen bereits unterschriebenen Brief
zeigte, mich beschwor, den ohnchin nur allzu unentschlossenen, furcht-
samen Reichskanzler nicht auch noch wegen Italien zu ängstigen und da-
durch ganz zu demoralisieren. So begnügte ich mich, Herrn von Bethmann
zu telegraphieren: „Brief erhalten. Selbstverständlich bin ich bereit, die
Absicht, während der Kriegsdauer im Vaterland zu bleiben, aufzugeben,
wenn ich mich in Rom nützlich machen kann. Indem ich dem Ruf, als
außerordentlicher Botschafter nach Rom zu gehen, folge. nehme ich an, daß
die Dauer nicht davon abhängt, wann sich Herr von Flotow wieder gesund
meldet. sondern daß es sich um Mission bis zum Friedensschluß handelt.
Zu näherer Verständigung auch über Form und Zeitpunkt der Verlaut-
barung meiner Mission bin ich jederzeit bereit, nach Berlin zu kommen.“