DIE TEMPORÄRE VERTRETUNG 199
eine Stimmung, welche von der Kaiserin besonders verstärkt wurde. Es
werden Leidenschaft und private Gefühle in die Politik hineingetragen; das
halte ich für sehr gefährlich! Bein Kaiser wie beim Kanzler fand ich eine
zu rosige Auffassung unserer militärischen Situation. Meines Erachtens
bleibt die Partie ziemlich gleich. Wir haben Belgien, England hat die Nord-
see, Rußland hat Galizien, die Japaner haben Kiautschou usw. Es ist ja,
selbst wenn man weiß, daß es noch viel besser hätte kommen können, wenn
nicht in der Führung Fehler gemacht worden wären, eine großartige
Leistung des Heeres, daß es gelungen ist, den Krieg, von einigen kleinen
Einbrüchen in Ostpreußen und im Elsaß abgeselıen, in Feindesland zu
halten, und daß wir überhaupt gegen diese Welt von Feinden immerhin
noch so vortrefflich dastehen und durch die letzten Hindenburgschen
Erfolge weitere günstige Perspektiven sich eröffnen. Aber wie der Friede
gestaltet werden soll, ist mir vorläufig rätselhaft. Natürlich können wir nur
auf dem Wege des Separatfriedens mit den einzelnen Parteien vorwärts-
kommen, und unter diesen Parteien ist Rußland diejenige, welche am
leichtesten zu bewegen wäre, sich von den Vereinbarungen mit England los-
zulösen. Sulche Verständigung mit Rußland würde, wenn sie nicht olıne
weiteres Frankreich mit sich zöge, uns die Möglichkeit bringen, aus dem
Osten Hindenburg und einen grußen Teil seiner Armeen frei zu machen
und der Sache im Westen ein glückliches Ende zu bereiten. Der ganze Ge-
danke ist beinahe zu gut, um Wahrheit zu werden, und ich glaube auch
deshalb vorläufig nicht daran. Wir werden vielmehr guttun, uns darauf vor-
zubereiten, daß man uns zwingen wird, diesen Krieg weiterzuführen.“
In Berlin eingetroffen, fand ich den Kanzler Betlımann in verlegener,
zwiespältiger Geistesverfassung. Mein Wiedererscheinen auf der politischen
Bühne war ihm offenbar nichts weniger als erwünscht. Beinahe naiv er-
kundigte er sich, ob ich die Absicht hätte, vor meiner Abreise nach Rom
Abgeordnete und Journalisten zu empfangen, und riet mir in „alter Treue
und Verehrung‘, wie er sich ausdrückte, davon Abstand zu nehmen, um
nicht die „leider“ noch bestehende Gereiztheit Seiner Majestät gegen mich
ncu zu beleben. Das wäre ja auch der Grund gewesen, warum er. der
Kanzler, meiner Mission nach Rom gern den Charakter einer nur tempo-
rären Vertretung des erkrankten Botschafters Flutow habe geben wollen.
Daß die Gereiztheit des Kaisers gegen mich, die übrigens von meinem Nach-
folger nach Kräften genährt wurde, nicht so groß war, wie er vorgab, ging
daraus hervor, daß ich noch in Hamburg ein direktes Telegramm Seiner
Majestät erhielt, in dem es hieß: „Ich würde es freudig begrüßen, wenn
Eure Durchlaucht baldigst nach Rom gehen und Ihren großen persönlichen
Einfluß bei den Italienern in unserem Interesse geltend machen könnten.
Viele Grüße an die Frau Fürstin.“ Andererseits war Bethmann ängstlich
Z
Bülow
in Berlin