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und zwanzig Jahre früher als Botschafter beherbergt hatte. Am Nach-
mittag ließ sich Flotow melden. Haltung und Ausdruck hätten jedem
Schauspieler als Vorbild dienen können, dem die Rolle des Sekretärs Wurm
in Schillers „Kabale und Liebe‘ zugefallen wäre. „Ist mir’s doch‘, meint
der redliche Stadtmusikant und Kunstpfeifer Miller in dem „bürgerlichen
Trauerspiel‘“ des jugendlichen Schiller über den Haussekretär des Präsi-
denten von Walter, „wie Gift und Operment, wenn ich den Federfuchser
zu Gesichte krieg.“ Herr von Flotow betonte, daß er mit ausdrücklicher
Ermächtigung des Reichskanzlers und des Staatssekretärs Italien nicht
verlassen, sondern seinen Urlaub dort verleben und seinen Wohnsitz „bis
auf Weiteres“ nach Neapel verlegen werde.
Wenige Tage später traf der Abgeordnete Erzberger in Rom ein. Seit
meinem Zerwürfnis mit dem Zentrum hatte mich kein Mitglied dieser Partei
schärfer angegriffen als er. Von ilım namentlich war das Märchen aus-
gegangen, das von dem früheren Regierungsrat Martin und dem Chef-
redakteur des Pariser „Figaro“, Gaston Calmette, weitergesponnen wurde,
daß ich den Plan verfolgt hätte, den Kaiser zur Abdankung zu zwingen
und mich zum Präsidenten der deutschen Republik proklamieren zu lassen.
Die persönliche Bekanntschaft von Erzberger hatte ich noch nicht gemacht.
Als er in mein Arbeitszimmer trat, sah ich einen mittelgroßen, untersetzten
Mann vor mir stehen, unbeholfen in Bewegungen und Gesten, mit derben
Gesichtszügen. „Er sieht aus wie ein Bierstöpsel‘, meinte eine ungarische
Gräfin, der ich ihn bald nachher vorstellte. Aber in der Unterhaltung, die
sich nun entspann, trat mir ein Mann von rascher und beweglicher Auf-
fassungsgabe entgegen, nicht geistreich, noch weniger gebildet, aber nicht
aufs Maul gefallen. Der Gerber Kleon würde in Erzberger einen ihm ver-
wandten Demagogentypus erkannt haben, bei aller sonstigen Verschieden-
heit zwischen dem Athener und dem Buttenhäuser. Albert Ballin sagte mir
einmal von Erzberger, er sei tüchtig, aber es fehle ihm das eigentliche
Fundament. Der feingebildete Abt-Primas des Benediktiner-Ordens, Frei-
herr von Stotzingen, meinte nach einer längeren Unterredung mit Erz-
berger: „Es fehlen ihm die Humaniora.“ Papst Benedikt XV. gab, wie
ich gelegentlich schon erwähnte, nachdem er ihn in Audienz empfangen
hatte, seinem Erstaunen darüber Ausdruck, daß der Signor Erzberger,
der im Parlament vielleicht ganz gut am Platze wäre, sich als Di-
plomat betätigen wolle, wozu er sich in keiner Weise eigne. Matthias
Erzberger hat während der letzten Jahre des Krieges und auch nach
dem Umsturz viele und schwere politische Fehler begangen. Er hat
großen Schaden angerichtet. Um so mehr ist es Pflicht, hervorzuheben,
daß sein Verhalten in Rom loyal war, daß er dort gute Dienste ge-
leistet hat.
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Bekanntschaft
mit Erzberger