Brief des
General-
adjutanten
v. Chelius
214 DER UNTERTON
Volk, dem einzelnen Mann, je weniger überlegener Führung schließlich zu-
geschrieben werden müßte, je größer werden die Forderungen der Demo-
kratie nach dem Kriege sein. Wenn man hier Herren der Regierung
spricht, ist man entsetzt über die Unkenntnis aller Vorgänge im Volk.“
Der damals noch auf dem rechten Flügel der konservativen Partei stehende
Publizist Herbert von Berger schrieb mir: „Hoffentlich erlebt die heute
geborene Generation eine Zeit, in der von der Jugend des preußischen
Adels Kopf und Herz und nicht nur das Blut in der Stunde der Not genutzt
wird. Mit den wenigen verwundeten Gardeoffizieren, die hier sind, etwa
achtzig Prozent sind ja gefallen, bin ich oft zusammen, sie meinen, das
stolze Vorrecht, vor dem Feinde zu sterben, dies Vorrecht des Adels wäre
ihm reichlicher zugeschoben worden, als notwendig gewesen ist. Ganze Ge-
schlechter sind ja vernichtet. Und bitter fragte mich neulich ein Verstüm-
melter, ein höherer Offizier, ob vielleicht aus politischen Gründen eine Aus-
rottung des preußischen Militär- und Beamten-Adels beabsichtigt sei. Ich
mußte dabei unwillkürlich an das geistreiche Wort eines bekannten Histo-
rikers denken, daß Rom zu Grunde gehen mußte, weil seine Aristokratie
untergegangen war. Es ist überhaupt eigenartig, wie diese Zeit, die das
Größte und Beste im Deutschen wieder zu Ehre und zur Geltung bringt,
einen trüben, ja verdrießlichen Unterton in den wertvollsten Kreisen hat.
Es ist da doch der Mangel an Führung und Führern von Charakter und
Kraft zu empfinden. Der eine Hindenburg kann schließlich nicht für alle
aufkommen. Und endlich scheint man an den maßgebenden Stellen besorgt
zu sein, keinen derer in den Vordergrund zu lassen, die Staatsmann und
nicht nur Beamter sein können. Nach Euer Durchlaucht fragen Politiker
im Offiziersrock und im Bürgergewand. Es gibt nicht einen nachdenklichen
und politisch einigermaßen urteilsfähigen Deutschen, der nicht weiß, daß
der gegenwärtige Kanzler bei Friedensschluß versagen wird, wie er bei
Kriegsausbruch versagt hat. Und doch steht dieser Mann fest, nur weil er
ein bequemer Diener ist. Darf man sich wundern, wenn in einem Volk, das
willig und gern so Ungeheures leistet, allmählich die Frage laut wird, ob es
nicht an der Zeit sei, in Erwägung tief einschneidender, verfassungsrecht-
licher Änderungen einzutreten, das Ministerernennungsrecht auf eine
breitere Basis zu stellen als den monarchischen Willen. Es ist eben nicht
zu leugnen: schwache und gedankenarme Minister wie Bethmann und
Jagow sind nicht nur eine Gefahr für das Land nach außen, sondern auch
für seine Verfassung im Innern.“
Im Gegensatz zu solchen warnenden und ernsten Stimmen patriotischer
Besorgnis schrieb mir aus dem Schloß Bellevue der diensttuende General-
adjutant von Chelius über die Allerhöchste Stimmung: „Der Kaiser will
noch immer nicht glauben, daß man in Italien Ernst mache gegen Öster-