MICHEL ODER MICHAELIS 267
Spaziergang im Tiergarten in das Hotel Adlon zurück, in dem wir ab-
gestiegen waren. Ich fand Bethmann bci meiner Frau, der er liebens-
würdigerweise einen Besuch abstattete. Als ich eintrat, erzählte er ihr
und mir das nachstehende Erlebnis während einer Reise an die I’ront.
Er habe in Charleville die brave Bürgersfrau aufgesucht, bei der erim ersten
Kriegsjahr im Quartier gelegen habe. „Revenez souvent nous voir quand
la paix sera retablie‘“, habe sie ihm gesagt, „Monsieur le Chancelier, vous
trouverez chez nous des mains prötes a serrer votre main, des c@urs qui
vous estiment et vous aiment.‘‘ Theobald von Bethmann fügte hinzu: „Das
sagte mir mehr über die wirkliche, die innerste Stimmung der Franzosen
als alles Zeitungsgerede. Und in England und in Belgien sieht es nicht
anders aus.‘ In einem alten französischen Lustspiel heißt es: „aut de la
naivete, pas trop n’en faut.“
Wie ist Kaiser Wilhelm auf den Entschluß verfallen, in einem hoch-
kritischen Augenblick den Unterstaatssekretär Michaelis zum Kanzler des
Deutschen Reiches zu ernennen, den, wie ich seinerzeit erzählt habe, der
Kabinettsrat Lucanus, ein langjähriger und gründlicher Kenner des preu-
Bischen Verwaltungsdienstes, wenige Jahre früher der Stellung eines Ober-
regierungsrates in Breslau nicht für gewachsen hielt? Von einem Hlerrn aus
der Umgebung Seiner Majestät wurde mir nachstehendes erzählt: „Wir
Flügeladjutanten unterhielten uns im Marmorsaal über die Frage, wer wohl
Nachfolger des unmöglich gewordenen Bethmann werden könnte. Es wurde
hin und her geraten, da riß der Generaladjutant von Plessen die Tür auf
und rief in den Saal: ‚Ich habe einen Reichskanzler! Wie er heißt, habe ich
vergessen. Michel oder ähnlich. Er macht in Brotlieferungen und hat neu-
lich eine famose Rede gehalten, in der er sagte, er renne jedem den Degen
durch den Leib, der ihm in den Weg träte.‘ Da erhob sich im Hintergrund
der Kabinettsrat Valentini, der bis dahin geschwiegen hatte: ‚Der Mann
heißt zwar nicht Michel, sondern Michaelis, er treibt auch kein Brotgeschäft,
sondern ist Staatssekretär für das Ernährungswesen in Preußen. Er hat
auch nicht gesagt, daß er jedem den Degen in den Bauch stoßen wolle,
sondern er betonte, er halte die Waffe des Gesetzes in der Hand und werde
sie rücksichtslos anwenden. Den zum Reichskanzler zu machen, wäre gar
kein so übler Einfall. Ich fahre sofort zu Seiner Majestät nach dem Schloß
Bellevue. Der Kaiser wird froh sein, wenn ich ihn um die Zurückberufung
des Fürsten Bülow herumbringe.‘ Eine Viertelstunde später stand Valen-
tini in dem historischen Schloß Bellevue vor Wilhelm II. und proponierte
Seiner Majestät den bisherigen Unterstaatssekretär Michaclis als Reichs-
kanzler. Der Kaiser erwiderte gut gelaunt: ‚Es wird mich sehr inter-
essieren, ihn kennenzulernen. Vorläufig habe ich keine Ahnung, wie und
wer er ist.‘ Sofort herbeigerufen, erschien der zum fünften Nachfolger des
Michaelis
wird Kanzler