Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Dritter Band. Weltkrieg und Zusammenbruch. (3)

GRABGELÄUT 285 
hamburgischen Liede heißt, das auch ich in meiner Kindheit singen hörte. 
Ballin entstammte einer seit Jahrhunderten an der Elbe ansässigen 
jüdischen Familie, die tüchtige Geschäftsleute, auch geachtete Gelehrte 
hervorgebracht hatte. Er ist dem Glauben seiner Väter immer treu ge- 
blieben. Ich habe nicht viele gekannt, die eine solche Kunst der Menschen- 
behandlung, soviel Sicherheit und Gewandtheit im Verkehr besaßen, die 
soviel Liebenswürdigkeit mit Würde verbanden wie Albert Ballin. Er war, 
was seltener ist, ein guter Mann. Wenige Menschen haben in ihrem Leben 
soviel Gutes getan wie Ballin. Sein Fehler war vielleicht eine gewisse 
Neigung, es allen recht zu machen. Das wurde ihm von seinen Gegnern als 
Charakterlosigkeit ausgelegt und gab ihm in der Tat bisweilen etwas 
Unsicheres. Alles in allem, als Ganzes genommen, war Ballin ein ganzer 
Mann. Er verkörperte wie kaum ein anderer den kühnen, wagemutigen, 
immer von neuem sich aufrichtenden, immer vorwärtsstrebenden Genius 
der mächtigsten deutschen Hafen- und Handelsstadt, des alten und immer 
jungen Hamburg. 
Fünf Wochen bevor Albert Ballin aus dem Leben schied, hatte ich in 
Flottbek den nachstehenden Brief des freisinnigen Reichstagsabgeordneten 
Dr. Siegfried Heckscher erhalten: „Hochverehbrter Fürst! Am 30. Sep- 
tember 1918 ist, auch nach außen hin erkennbar, das deutsche Kaisertum 
Bismarckscher Schöpfung und Bülowscher Entfaltung zu Grabe geläutet 
worden. Leider hat sich auch die Oberste Heeresleitung einem verhängnis- 
vollen Optimismus in der Beurteilung der gegnerischen Kräfte hingegeben. 
Aber das Entscheidende war doch die verbrecheri hmähliche politische 
Führung von den Julitagen 1914 an bis zu den letzten Lebenszeichen des 
Hertlingschen Regimes. Dennoch hätte sich die gefahrdrohende, sausende 
Fahrt des Reichswagens verlangsamen lassen, wenn wenigstens in den 
Septembertagen dieses Jahres die Krone von charaktervollen, staatsklugen, 
besonnenen Männern beraten worden wäre. Aber Herr von Berg hat völlig 
versagt. Erst war er für Bülow, dann gegen ihn, weil Bülow mit Scheide- 
mann zusammen arbeiten wolle, und Berg empfahl die Diktatur, dann 
wieder gab er die verfassungsmäßigen Rechte der Krone kampflos preis, 
und schließlich unternahm er einen dilettantischen Versuch, das unwieder- 
bringlich Verlorene wiederzugewinnen. Das Schicksal des Stuartkönigs, in 
das ich mich einstmals zu dichterischer Gestaltung liebevoll versenkt habe, 
trat vor meine Scele. Nur daß sich zu dem Kampfe zwischen dem englischen 
Parlament und Karl dem Ersten heute die furchtbare Tatsache gesellt, daß 
wir den Weltkrieg verloren haben. Der Umschwung in Deutschland ist so 
katastrophenhaft, daß die Leute mit wenigen Ausnahmen den Kopf ver- 
loren haben. Zu den Ausnahmen rechne ich den alten Grafen August 
Eulenburg, der in Haltung und Urteil die Ruhe bewahrt hat. Hätte er statt 
  
Dr. Siegfried 
Heckscher 
an Bülow
	        
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