DER ROMAN EINER DESZENDENZ 293
immer Zeit genug, sie auswendig zu lernen. Die tadellos aufgesagte Rede,
die sich in allgemeinen liberalen Wendungen bewegte, erregte stets den
freundlichen Beifall, den diese harmlose Art von Beredsamkeit seit jeher
in Deutschland findet. Man denke an Herrn Willy Helpach, der sich nach
dem Ableben des biederen Fritz Ebert 1925 schon als Reichspräsident
träumte. Während des Weltkrieges hatte sich Prinz Max von Baden der
deutschen Internierten in der Schweiz angenommen und dabei im Verkehr
mit den Schweizer Behörden wie mit den Internierten aller kriegführenden
Mächte liebenswürdiges Wesen und sicheren Takt an den Tag gelegt. Ich
glaube noch heute, daß Prinz Max als Führer der Waffenstillstands-
kommission im Herbst 1918, wenn ihm ein tüchtiger Generalstäbler und
ein gewandter Beamter des auswärtigen Dienstes beigegeben worden wäre,
seine Sache ganz gut gemacht hätte. Zum Unterhändler mit fremden
Diplomaten, Ministern und Generälen eignete er sich weit besser als die
„unabhängigen Deutschen“, die freiwillig nach Versailles fuhren, wo sie
eine klägliche Rolle spielten, oder gar als Matthias Erzberger, den wir in
den Wald von Compiegne schickten.
Prinz Max hatte ein vornehmes Auftreten, die besten Formen. Er
beherrschte gleich gut Englisch und Französisch. Sohn des uralten
Zähringer Hauses und Gatte einer Tochter des noch älteren welfischen
Hauses, war er gleichzeitig mit dem englischen, dem russischen und dem
dänischen Hofe nahe verwandt. Durch seine Mutter, eine Leuchtenberg-
Romanowsky, war er ein Urenkel des Kaisers Nikolaus I. Er stammte aber
nicht nur von dem großen Autokraten ab, sondern auch vom Vicomte
Alexandre Beauharnais, der nach dem Ausbruch der Französischen
Revolution sich ihr anschloß, zum Befehlshaber der Rheinarmee ernannt
und, weil er Mainz nicht halten konnte, im Monat Thermidor 1794, wenige
Tage vor Robespierre, guillotiniert wurde. Wie erstaunt wäre der junge
General Beauharnais gewesen, wenn ihm, während er in dem verhängnis-
vollen Karren zur Guillotine gefahren wurde, eine Seherin erschienen wäre,
die priesterliche Jungfrau der Brukterer im heutigen Westfalen, die Velleda,
oder ein Seher, wie der Teiresias der griechischen Sage, und ihm verkündet
hätte: „Deine hübsche Witwe Josephine wird Kaiserin der Franzosen
werden, dein kleiner Sohn Eugen Vizekönig von Italien und Schwiegersohn
des ersten Königs von Bayern; dessen Sohn, dein Enkel, wird die älteste
Tochter eines russischen Zaren heiraten. Deine kleine Tochter Hortense
wird Königin der Niederlande werden und Mutter des dritten französischen
Kaisers, der von einem deutschen Kaiser bei Sedan gefangengenommen
werden wird. Deine Nachkommen werden auf den Thronen von Schweden,
Norwegen, Dänemark, von Brasilien und sogar von Anhalt-Dessau, Köthen
und Bernburg sitzen. Deine kleine Nichte Stefanie wird Großherzogin von