DIE WAHRHEIT! 319
seinerzeit die Antwort wiedergegeben, die mir im Dezember 1900 bei einer
zufälligen Begegnung außerhalb des Reichstags, im Berliner Tiergarten,
Hasse erteilte, als ich ihn, auf dem Höhepunkt des Südafrikanischen Krieges,
darauf hinwies, wie sehr er durch seine direktions- und taktlose Agitation
für die Buren meine Bemühungen erschwere, zwischen dem deutschen und
dem englischen Volke aufrichtig-freundschaftliche Beziehungen herzu-
stellen. Er habe, meinte der biedere Hasse, wie das Recht so die Pflicht, den
Gefühlen des deutschen Volkes Ausdruck zu geben, an mir, dem Minister,
sei es, dafür zu sorgen, daß unsere diplomatischen Beziehungen zu England
dadurch nicht geschädigt würden. Als ich viele Jahre später Herrn
Dr. Friedrich Thimme auseinandersetzte, daß durch die allzu weit gehende
Gründlichkeit und Ehrlichkeit seiner Publikationen unseren ohnehin nach
unserer Niederlage unter schwierigen Verhältnissen tätigen Ausland-
vertretern ihre Arbeit erheblich erschwert würde, erwiderte mir der gleich-
falls biedere Mann: „Durchlaucht, die Wahrheit! Die Wahrheit! Der
Diplomat mag sich von opportunistischen Erwägungen leiten lassen. Der
Staatsmann mag der wirklichen oder vermeintlichen Staatsräson folgen.
Der Historiker hat nur ein einziges Ziel: Die Wahrheit. Ihr allein diene ich,
was auch danach kommt.“ Er sprach das Wort „Wahrheit‘ mit starkem
Nachdruck aus, ore rotundo: „‚Die Wooorheit!“ Als ich den trefllichen Mann
freundlich darauf aufmerksam machte, daß weder Frankreich noch England
noch Italien alle ihre Archive in diesem Umfange geöffnet hätten, meinte er
stolz: „Dann stehen eben diese Länder moralisch tief unter uns, auch wenn
sie die Sieger sind.‘‘ Und von seiner moralischen Höhe blickte er stolz auf
mich wie einst Herr Hasse.
Der Wert der nach unserem Zusammenbruch in Deutschland ver-
öffentlichten retrospektiven historischen Betrachtungen steht nicht auf der
Höhe ihrer Zahl. Wer aus dem Rathaus herauskommt, pflegt ja klüger zu
sein als vorher. Es ist leichter für den Historiker, den Gang der hinter ihm
liegenden Ereignisse zu kritisieren, als es für den Staatsmann ist, die
Ereignisse richtig zu benutzen und zu meistern. Wenn unsere Historiker
wirklich so klug und geschickt wären, wie sie sich in ihren Betrachtungen
vor dem Publikum hinstellen, so könnten wir ja gar nichts Besseres tun,
als ihnen von jetzt an die Leitung unserer auswärtigen Politik und die
Führung unserer Verhandlungen mit den anderen Mächten zu übertragen.
Würden sie es besser gemacht haben, als es in Genf, in Locarno und in
Genua unsere damaligen Vertreter, als es Marx und Luther, als es Rathenau
und namentlich Gustav Stresemann gemacht haben? Ich glaube gern, daß
die meisten dieser Herren nicht solche Fehler begangen haben würden, wie
sie im tragischen Hochsommer 1914 Bethmann und Konsorten leider Gottes
sich zu schulden kommen ließen. Dazu gehörte nur ein bißchen normaler