Die neuen
Männer
Bismarck
und das
Parlament
326 DER ERSTE REICHSTAG
Als daher das deutsche Volk zur Wahl der Nationalversammlung und
später zur Wahl des ersten neuen Reichstags schritt, fehlte es an politisch
geschulten Köpfen, die aus eigener Erfahrung die Technik der Staats-
verwaltung, die Handhabung des staatlichen Machtapparates, die Führung
der Staatsgeschäfte kannten. Die Politiker, die dem ersten Werden des
neuen Deutschlands das Gepräge gegeben haben, waren durchweg Neulinge,
die mit täppischen Händen in die große Maschine des Staats eingriffen. Sie
waren bis dahin gewöhnt gewesen, die Fragen des staatlichen Lebens nur
vom Standpunkt unfruchtbarer Kritik oder skrupelloser Opposition zu
behandeln. Der Staatsgedanke, die Salus publica, kam für diese Homines
novi erst nach dem Parteiinteresse, erst nach den Gesichtspunkten, in deren
Beachtung sie in der Schule des Parteilebens gedrillt worden waren. Der
Übergang zur Macht war für sie zu unvermittelt gekommen. Da das Be-
wußtsein der Würde des Staates in ihnen nicht lebendig war, fehlte es ihrem
Auftreten nach außen, fehlte es zum Teil ihrer inneren Gesinnung an Würde.
Sprechender Beweis ist hierfür die schwarz-rot-goldene Fahne, diein Weimar
dem deutschen Volke in einer Stunde moralischer Erschöpfung aufgedrängt
worden ist. Das alte Reichsbanner, dessen Farben ein halbes Jahrhundert
in Ehren in der ganzen Welt sich hatten zeigen können, die Fahne Schwarz-
Weiß-Rot, die respektgebietend auf allen Meeren geflattert hatte, wurde
dem „Geist von Weimar“ geopfert, ohne Verständnis für die Kläglichkeit
des Schauspiels, das Deutschland bot, als es das Wahrzeichen seines Glanzes
und seines Ruhms in würdeloser Selbstzerknirschung zerriß. Der Eindruck,
den die Kabinette der ersten Jahre der deutschen Republik auch auf uns
freundlich gesinnte Kreise des Auslandes, insbesondere jene neutraler
Länder machten, war kläglich. Bei aller Korrektheit, mit der sich mir aus
früherer Zeit befreundete fremde Diplomaten ausdrückten, mußte ich zu
meinem Schmerz aus ihren Äußerungen heraushören, daß man im uns gut
gesinnten Ausland nicht begriff, wie Deutschland derart arm an Politikern
sein könne, die mit Würde die Interessen ihres Landes zu vertreten ver-
stünden, und wie wohlzufrieden man mit diesem Zustand in Paris und in
London war.
Wenn ich auf Gründung und Ausgang des ruhmvollen Deutschen Reiches
Bismarckscher Prägung zurückblicke, so drängt sich mir die Frage auf, ob
der größte deutsche Staatsmann nicht zu viel Macht im preußischen
Königstum und damit im deutschen Kaisertum konzentriert, ob er nicht
andererseits dem Parlament zu wenig Einfluß eingeräumt hat. Wie meist,
8o hat auch in dieser entscheidenden Frage Bismarck sich ein Urteil aus
eigener Erfahrung, nach eigener Anschauung gebildet. Durch seine Geburt,
durch seinen Lebensgang, durch die Tradition seines Geschlechts wie durch
die Umgebung, in der er aufwuchs, war er, vielleicht noch mehr mit dem