Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Dritter Band. Weltkrieg und Zusammenbruch. (3)

ABGEORDNETE 355 
Der Obermeister Karl Rahardt, Mitglied des Abgeordnetenhauses, 
schrieb: „Wenn Millionen guter Deutscher mit wehmütigen und schmerz- 
lichen Gefühlen ihren langjährigen und hochverdienten Reichskanzler in 
Eurer Durchlaucht scheiden sehen, so erfüllt den Unterzeichneten Bitternis 
und tiefer Grimm über die Ereignisse der letzten Wochen. Waren es doch 
in der Hauptsache meine eigenen Parteigenossen, welche den unseligen 
Ausgang herbeiführten. Wenn der Mittelstand sich von der Konservativen 
Partei abwendet, so geschieht dies nicht allein deswegen, weil man an Stelle 
der Erbschaftssteuer eine Menge mittelstands- und verkehrsfeindlicher Er- 
satzsteuern angenommen hat. Die Erbitterung gegen die Leitung der Kon- 
servativen Partei ist auch nicht allein deswegen so groß in den Reihen des 
Mittelstandes, weil man sich gegen die unnatürliche Bundesgenossenschaft 
des Zentrums und der Polen wehrt, sondern weil zielbewußt und mit Vor- 
bedacht auf den Sturz des Mannes hingearbeitet wurde, der es verstanden 
hat wie unser unvergeßlicher Bismarck, sich einen Platz in den Herzen aller 
guten Deutschen zu sichern. Beim Scheiden Eurer Durchlaucht aus dem 
verantwortungsvollen Amt des Reichskanzlers will ich es aussprechen, daß 
gerade der Mittelstand mit unbegrenztem Vertrauen, Liebe und Ver- 
ehrung auf Euer Durchlaucht geblickt hat und dankbaren Herzens aner- 
kennt, daß, soweit es das allgemeine Staatsinteresse zuließ, vieles für die 
erwerbenden Stände im letzten Jahrzehnt geschehen ist. Das hier auszu- 
sprechen, ist mir ein Herzensbedürfnis, und Euer Durchlaucht dürfen ver- 
sichert sein, daß der Mittelstand im allgemeinen und der Handwerkerstand 
im besonderen seinem hochverdienten vierten Reichskanzler tiefste Dank- 
barkeit und ein treues Andenken bewahrt.“ 
Aus dem Schreiben des Abgeordneten Julius Kopsch, Rektors in Berlin 
und Vorsitzenden der Parteiorganisation der Fortschrittlichen Volkspartei, 
sprach die Stimmung, die drei Jahre später zu dem Ergebnis der Wahlen 
von 1912 führen sollte: „„Euer Durchlaucht gestattet sich ein schlichter Ab- 
geordneter der Freisinnigen Volkspartei bei Eurer Durchlaucht tief bedauer- 
lichem Scheiden aus dem Amt nachträglich ein Lebewohl zuzurufen in der 
sicheren Hoffnung, daß in absehbarer Zeit ein Wiedersehen auf dem Reichs- 
kanzlerstuhl des Reichstages erfolgt. Herr von Heydebrand und seine Ge- 
folgschaft werden des Sieges nicht froh werden. Die Führung in einer Mchr- 
heit haben stets diejenigen, die über die erforderlichen Arbeitskräfte ver- 
fügen. Den Konservativen fehlen die Arbeitskräfte, ihnen fehlt die er- 
forderliche Sachkenntnis. All das Fehlende ist beim Zentrum überreich vor- 
handen, daher liegt trotz der Worte des Herrn von Heydebrand die 
Führung bald in den Händen der Herren Spahn und Erzberger. Wer aber 
das Ränkespiel des Herrn Spahn, die brutale Herrschsucht des Herrn Erz- 
berger in der Budgetkommission kennengelernt hat, der kann, ohne 
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M.d. A. 
Rahardı 
M.d.A. 
Kopsch
	        
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