WETTERFAHNEN 33
laucht treuer und gehorsamster Kiderlen.‘“ Auch die alte, innige und un-
wandelbare Anhänglichkeit und Verehrung des treu gehorsamsten Kiderlen
hielt nicht allzu lange vor. Aus seinen nach seinem Ableben publizierten
Briefen an Frau Kypke war zu ersehen, wie er sich von mir ab- und gegen
mich wandte, als es ihm sicher schien, daß ich an Allerhöchster Stelle ganz
und endgültig in Ungnade gefallen sei. Ich möchte ausdrücklich betonen,
daß solches Abrücken von gestürzten Größen nicht etwa nur mir wider-
fuhr. Welche Erfahrungen mußte in dieser Beziehung Fürst Bismarck
machen! Er sei, hat der größte aller Kanzler in seinen Briefen und noch
mehr in seinen mündlichen Äußerungen geklagt, nach seinem Rücktritt von
vielen seiner früheren Freunde, Anhänger und namentlich Untergebenen
„wie ein Pestkranker“ gemieden worden. Um seinem ältesten Sohn, dem
einst umschmeichelten Staatssekretär Graf Herbert, nicht Unter den
Linden zu begegnen, hätte „mancher Lumpenhund“ einen weiten Umweg
gemacht. In Frankreich wurde in den dreißiger Jahren des vorigen Jahr-
hunderts unter dem Titel „Dictionnaire des Girouettes‘“ (Wörterbuch der
Wetterfahnen) ein Lexikon veröffentlicht, das alle diejenigen Männer des
öffentlichen Lebens aufführte, die seit 1788 ihre Ansichten, Überzeugungen
und dementsprechend ihre Beziehungen und Freundschaften gewechselt
hatten. Es war ein stattlicher Band.
Ich konnte aber auch unter meinen Untergebenen auf erfreuliche Aus-
nahmen blicken. Der Botschafter von Radowitz, der mir einst ein strenger
Vorgesetzter, dann ein folgsamer und eifriger Untergebener gewesen war,
wahrte den Anstand und telegraphierte mir: „Eure Durchlaucht wollen mir
gestatten, den Ausdruck aufrichtiger Verehrung und größter Dankbarkeit
für mir stets bewiesenes Wohlwollen darzubringen. Wir senden innigste
Wünsche für Eurer Durchlaucht und der Frau Fürstin ferneres Wohl-
ergehen.“
Wer aus einem Amte scheidet, das wie das des Reichskanzlers seinem
Träger das dienstliche Wohl und Wehe, die Hoffnungen und Zukunft der
nach- und untergeordneten Beamten in die Hand gibt, erlebt natürlich
allerlei Unerfreuliches. Das war, wie gesagt, zu allen Zeiten und in allen
Ländern so. Es ist kein Grund zur Verwunderung, noch weniger zu mora-
lischer Entrüstung, daß der Träger eines solchen Amtes mehr von Streberei
umwedelt als von Treue umgeben ist. Homines sumus. Einige der Herren
aber, die der Dienst mir nähergebracht hatte, haben das normale Maß von
Undankbarkeit, das bei derartigen Anlässen oft zu beobachten ist, erheb-
lich überschritten. Ihre Fälle sind nicht typisch, aber lehrreich.
An erster Stelle steht hier Gottlieb Jagow. Während meiner Bot-
schafterzeit, es muß 1895 gewesen sein, erhielt ich einen Brief von einem Gottlieb
alten und braven Regimentskameraden, Hermann Jagow, der damals schon vor Jagow
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