92 Das heilige römische Reich deutscher Nation.
schiede von den Wälschen (adjective Bildung von Wale, d. h. Gale,
Gallier; das deutsche Element stieß mit dem römischen am Rheine, an
der Gränze des romanisierten Galliens, von Cäsar bis Julian anhaltend
und heftig zusammen), d. h. den romanischen Völkern, sowie den Slaven
(Wenden), die aber nie als Wälsche bezeichnet werden. Es gab damals
also wohl deutsche Völker, aber ein deutsches Volk oder eine deutsche
Nation in politischer Bedeutung (ein einbeitliches deutsches Reich) nicht;
das Bewußtsein der nationalen politischen Einheit entwickelte sich dauernd
erst seit der sächsischen Dynastie in Deutschland und erscheint unter der
hohenstaufschen durchgedrungen; offiziell nennt sich aber erst Mar I.
„König von Deutschland“ (Germaniae rex).
(udwig der Deutsche (843—876).
Ludwig der Deutsche war so wenig als einer seiner Brüder mit
seinem durch den Vertrag von 843 erhaltenen Gebiete zufrieden; wie
sein Griff nach der westfränkischen Krone 856 mißlang, deßgleichen die
Theilung Lothringens zu Mersen (870) und sein letzter Zug gegen
Neustrien (875), ist bereits oben erzählt.
Der Mähre Ratislaw (855—869). St. Methodius und Cyrillus.
Die Normannen gaben Ludwigen weniger zu schaffen, obwohl sie
Sachsen und Friesland mehrmals angriffen; dagegen beunrubigten ihn
die flavischen Stämme, welche entlang der Ostgränze seines Reiches
wobnten, dieselbe vielmal überschritten, von ihm jedoch im Ganzen
glücklich bekämpft wurden. Die Slaven in Böhmen, Mähren, Oester-
reich und Oberungarn hatten Karls des Großen und Ludwigs des
Frommen Oberberrschaft wenigstens dem Namen nach anerkannt, ver-
weigerten aber den Nachfolgern die gleiche Huldigung. Der Mäbren-
herzog Ratislaw war ein um so gefährlicherer Gegner, als er die
benachbarten slavischen Stämme unter seiner Herrschaft vereinigte und
mit den Bulgaren, sowie mit dem byzantinischen Kaiser Bündniß schloß.
Von den Deutschen wollte er den Mähren das Christenthum nicht geben
lassen, weil mit demselben die Unterwerfung unter die deutsche Herrschaft
verbunden schien, daber erbat er sich von Konstantinopel (863) Glau-
bensboten und erhielt auch die Mönche Methodius und Cyrillus, welche
das Christenthum mit dem besten Erfolge verbreiteten (cprillische Schrift);
der Papst begünstigte das nationale Streben des mährischen Herzogs,
indem er Mähren keinem deutschen Metropoliten unterwarf, sondern den
Methodius selbst zum ersten Metropoliten weihte. Ratislaw, der sich
auch mit Ludwigs aufrührerischem Sobne Karlmann verband, endete durch
Verrath gefangen und nach der grausamen Sitte der Zeit geblendet in
einem deutschen Kloster.