234 Das heilige römische Reich deutscher Nation.
Vielfach stellt man es so dar, als ob die Ketzer des Mittelalters
harmlose Leute gewesen seien, die gerne in Ruhe und Stille nach ihrer
Ueberzeugung gelebt hätten, aber meistens die Opfer des spürenden
Glaubenshasses geworden wären. Die Geschichte beweist das Gegentheil;
fast alle Ketzereien verdeckten mit dem religiösen Gewande Laster und un-
reine Thaten oder stempelten solche gar zu guten Werken, selbst zu reli-
giösen Uebungen. Ebenso wenig ist es wahr, daß sie nur Frieden für
sich verlangten; sie besaßen im Gegentheile durchgängig einen großen
und thätigen Eifer neue Anhänger zu werben, und verfolgten die Kirche
mit einem Hasse, der nur größerer Macht bedurft hätte, um eine allge-
meine Verfolgung ins Werk zu setzen. Die Kirche durfte nicht zusehen,
wenn ihr einzelne Glieder entfremdet wurden, sondern mußte mit ihren
Mitteln dagegen einschreiten, sonst hätte sie ihre erste Pflicht nicht er-
füllt, und wenn die Kirche den Abgefallenen nicht bekehrte, so ergriff
diesen der Staat und strafte ihn nach seinen Gesetzen; denn die dama-
ligen Staaten waren rein katholische, auf der kirchlichen Grundlage ruhte
ihre ganze Erxistenz, darum duldeten sie niemanden, der den Glauben
für unwahr, die kirchliche Ordnung für unchristlich, und das für unheilig
hielt, was allen andern heilig war. Daß die Gesetze mit dem Tode
straften, war eine Folge der damaligen Staatseinrichtungen überhaupt,
welche das Uebel, das dem Staate angethan wurde, durch Beseitigung
des Urhebers wegschaffen wollten.
Im Anfange des 13. Jahrhunderts hatte sich verschiedenartige
Ketzerei aus Asien her über das Bulgarenland, über Deutschland, Ita-
lien und namentlich über das südliche Frankreich verbreitet und durch die
Zahl ihrer Anhänger eine Kühnheit erreicht, welche seit Jahrhunderten
nicht mehr gesehen worden. Dies veranlaßte den Kreuzzug gegen die
Albigenser, welche so genannt wurden, weil das südfranzösische Albi ihr
Hauptsitz war. Wenn Peter Waldus um 1170 gegen weltliches Treiben
der Geistlichkeit eiferte, so war dies keine Ketzerei, und wenn die Albi-
genser die weltliche Macht und den großen Besitz in den Händen der
Geistlichkeit als unchristlich verwarfen, so stimmten sie mit den andern
Sekten überein; aber viele derselben hatten in ihren Glauben manichäische
Elemente aufgenommen. Nicht der Gott des Lichts hat die Welt er-
schaffen, lehrten sie, sondern der der Finsterniß, welcher der Jehova der
Bibel ist; von ihm sind die meisten Menschen beseelt, in andern aber
sind die Seelen der gefallenen Engel; Christus ist ein treuer Engel des
Lichtgottes, der die höheren Menschen von ihrer Abkunft unterrichtete,
damit sie sich dem Dienste des Herrn dieser Welt entzögen; nur diese
sind der Erlösung fähig, die andern Menschen nicht. Daraus folgt von
selbst, daß die Albigenser die Hauptsätze des katholischen Glaubens ver-
warfen und die Sakramente nicht anerkannten. Sie hatten unter sich