England. Verfassungsreformen. 511
worden wäre, die nicht durch Stand, Kenntnisse oder Reichthum einen
hohen Rang in der bürgerlichen Gesellschaft einnehmen. Dies verhindert
am wenigsten der für England ziemlich niedrige Census und der Umstand,
daß ein Unterhausmitglied keine Taggelder und nur Briefportofreiheit
ansprechen kann, als vielmehr die Summe, die ein Kandidat bei der
Wahl zu bestreiten hat, der also selbst ein großes Vermögen besitzen,
oder aus der Börse der reichsten Leute einer Grafschaft oder Stadt unter-
stützt werden muß; sodann der englische Volksgeist, der sich einen Stell-
vertreter der Nation nur als Gentleman, d. h. als einen gebildeten,
unabhängigen und hochgeachteten Mann denken kann. Begreiflich wird
eine solche Parlamentsreform die Demokraten niemals befriedigen, deß-
wegen hat sich auch eine radikale Partei gebildet, die allgemeines Stimm-
recht, dreijährige Parlamentsdauer, Ballot 2c. verlangt; dieselbe hat aber
auch in den Jahren 1848 und 49 nichts durchsetzen können, während
gleichzeitig ein Aufruhr in Irland unter Mitchel und Smith
O'Brien kräftig und schnell unterdrückt wurde.
Seit der Parlamentsreform bestehen die alten Parteien der Wighs
und Torys nur mehr dem Namen nach, indem die einen das Wahl-
gesetz von 1832 nicht anfechten, die andern die Bestrebungen der Radi-
kalen und Chartisten nicht unterstützen können, beide also für die Auf-
rechthaltung der Verfassung eintreten müssen. Dies zeigte sich in der
Aufhebung der Komhbill (vergl. S. 445), die 1846 durch den ehemali-
gen Tory Robert Peel nach mehreren vorbereitenden Schritten durch-
gesetzt wurde; die zollfreie Zulassung des fremden Getreides beeinträch-
tigte unstreitig das Einkommen der großen Grundbesitzer, sie wurde aber
nothwendig aus national-ökonomischen Rücksichten. Englands Reichthum
und Macht beruht wesentlich auf seiner Industrie, die auf dem Welt-
markte mit der Konkurrenz anderer Industrien zu kämpfen hat, und dies
nur mit Erfolg thun kann, wenn sie ihre Waaren wenigstens gleich wohl-
feil liefert. Deßwegen darf der englische Fabrikant nicht mit größeren
Kosten arbeiten als sein ausländischer Konkurrent, also auch nicht un-
verhältnißmäßig höhern Lohn an seine Arbeiter bezahlen; diese können
aber nur dann mit dem gleichen Lohn wie z. B. die schweizerischen vor-
lieb nehmen, wenn sie Brot und andere Nahrungemittel wenigstens nicht
theurer bezahlen müssen. Aus diesen Rücksichten wurde nicht bloß die
freie Einfuhr fremden Getreides erlaubt, sondern es wurden auch die
Zölle auf die Einfuhr von Vieh, Fleisch, Butter, Eier u. s. w. aufge-
hoben und die auf Thee, Kaffee, Zucker u. dgl. Nahrungsmittel bedeu-
tend ermäßigt. Dasselbe geschah mit allen andern Gegenständen, welche
der englischen Industrie und Schifffahrt dienen, daher die Engländer
gerne behaupten, bei ihnen gelte seit Robert Peel das Freihandelsystem,
was aber nicht wahr ist, denn auf allen Fabrikaten, welche von der