76 Die Organisation des Staates. Die Staatsbehörden. g 33
3. Uber die von dem Staatsgerichtshofe auszusprechenden Rechtsfolgen äußert
sich das MVG. ebensowenig wie über das Verfahren. Demnach hätte der Staatsgerichtshof
— entsprechend dem, was oben bezüglich des Verfahrens gesagt wurde — gegebenenfalls
zunächst auf diejenigen Rechtsfolgen zu erkennen, welche im gewöhnlichen (kriminellen) Ver-
fahren vor dem Oberlandesgericht Anwendung zu finden haben 1). Hierbei ist jedoch zweierlei
zu berücksichtigen:
a) Der Zweck des Gesetzes. Dieser ist nach der Entstehungsgeschichte des Ge-
setzes in erster Linie darauf gerichtet, eine Gewähr für die Einhaltung der Verfassung und
landesherrlichen Versprechungen zu geben. Daher war die einzige Tendenz des Gesetzgebers
beim Erlasse des MVG. die, das in dem Gesetze ausgesprochene Verantwortlichkeitsprinzip
praktisch brauchbar zu machen, nicht aber die, „Strafgesetze gegen die Minister zu erlassen“ 2).
Bei der Bemessung der Rechtsfolgen wird sich der Richter, wie bei der Beratung des Gesetzes
in der Ersten Kammer ohne Widerspruch bemerkt wurde, oft damit begnügen können, „auf
Schadenersatz 3) oder eine andere Genugtuung zu erkennen, es vielleicht dabei bewenden lassen,
seine Mißbilligung zu erkennen zu geben, um ein ähnliches Verfahren für die Zukunft zu ver-
hindern“, nicht aber jedesmal das äußerste Mittel der Amtsentsetzung anwenden. Denn die
Anklagen, mit welchen sich der Staatsgerichtshof zu befassen hat, finden nicht wie die pein-
lichen Anklagen bloß wegen Verbrechen, sondern möglicherweise auch schon wegen „einer
augenblicklichen Nichtachtsamkeit“ (vgl. oben S. 73.) statt.
b) Der Einfluß der Reichsgesetzgebung. Vor dem Inkrafttreten der
Reichsjustizgesetze war der Staatsgerichtshof nach dem oben Gesagten befugt, beim Mangel
eines besonderen Systems „staatsrechtlicher“ Strafmittel einerseits diejenigen Straffolgen
auszusprechen, welche er im gewöhnlichen Strafverfahren anwandte, andrerseits auch auf
solche Rechtsfolgen zu erkennen, welche sonst nach positivrechtlicher Anordnung dem Dis-
ziplinarstrafsystem angehören )). Heute ist der Staatsgerichtshof, da ihm durch die Reichs-
justizgesetzgebung jede strafrichterliche Zuständigkeit und damit jede Möglichkeit zur Verhängung
krimineller Strafen entzogen wurde, auf den Gebrauch der ihm als Disziplinarstrafgericht
zur Verfügung stehenden Dis ziplinarstrafmittel beschränkt, deren Anwendbarkeit
allerdings zum Teil an der Sonderstellung der „Minister“ scheitert 5). Diese Disziplinar-
strafmittel bestehen einerseits in Ordnungsstrafen, andrerseits in der Entfernung
aus dem Amte. Ordnungsstrafen sind: Warnung, Verweis und Geldstrafe bis zum
Betrage des einmonatlichen Gehaltes, Entziehung der Berechtigung zum Vorrücken in eine
höhere Gehaltsklasse auf bestimmte Dauer. Die Entfernung aus dem Amte kann bestehen
in Strafversetzung und in Dienstentlassung.
vertretung, und zwar bloß eine aus deren Mitte zu wählende Kommission"“ die Anklage vor dem
Staatsgerichtshof sollte vertreten können. — Bezüglich der ergänzenden Anordnungen des Groß-
herzogs s. auch L V. II 1820 Beil. 106 S. 21 (Floret).
1) Vgl. LV. I 1820/21 Seil XV (Frhr. du Thil) bes. S. 61, Beil. 18 (Dr. Arens) S. 81
sowie Esselborn, Ann., S. 552.
2) LV. I 1820/21 Beil. v S. 61 (Frhr. du Thil). Vgl. hierher Laband, Deutsches
Reichsstaatsrecht (kleine Ausgabe), 5. A., Tübingen 1909, S. 313: „Eine Rechissache, bei welcher
nicht die Anwendung cines Strafgesetzes in Frage steht und das Endziel des Verfahrens bildet,
ist keine „Strafsache“.“
3) Zu einem derartigen Ausspruch ist der Staatsgerichtshof heute nicht mehr befugt, da
ihm keine Kompetenz in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zusteht. Richtig Pistorius S. 161.
4) Vgl. v. Lis zt, Sitr R., § 58; s. auch Esselborn, Ann., S. 552 u. 553.
5) Daß das Ministeranklageverfahren an sich nicht den Charakter eines Disziplinarverfahrens
hat, ist hierauf ohne Einfluß. — Wenn an dem bei der Schaffung des MV. allgemein als richtig
anerkannten Grundsatze festgehalten wird, daß der Staatsgerichtshof sein Verfahren und sein
Strafsystem dem bei ihm jeweils geltenden gewöhnlichem Verfahren zu entnehmen habe, so
können hier heute nur die Grundsätze in Betracht kommen, welche das Gesetz, die Rechtsverhält-
nisse der Richter betr., v. 31. Mai 1879 in dieser Richtung aufstellt. Dagegen können die einschlägigen
Vorschriften des Gesetzes, die Disziplinarverhältnisse der nichtrichterlichen Staatsbeamten
betr., v. 21. April 1880 hier keine Anwendung finden, weil das Oberlandesgericht in Disziplinar-
angelegenheiten der nichtrichterlichen Beamten überhaupt keine Zuständigkeit besitzt.