Full text: Central-Blatt für das Deutsche Reich. Fünfter Jahrgang. 1877. (5)

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den Verhältnissen des einzelnen Falles beurtheilen läßt, kann unmöglich schablonenmäßig beant- 
wortet werden. Aber selbst wenn man eine Vermuthung dafür zulassen wollte, daß die verehe- 
lichte S. sich und zwei Kindern den nothwendigen Lebensunterhalt zu verschaffen im Stande 
war, würde der Beweis des Gegentheils dem Kläger nicht haben abgeschnitten werden dürfen. 
In jetziger Instanz hat nun Kläger Anslassungen des betreffenden Armenpflegers und des Bezirks- 
vorstehers beigebracht, welche jene Annahme des ersten Richters vollständig entkräften. Und da 
Verklagter die Glaubwürdigkeit der Aussagen Beider nicht angefochten hat, so war ohne weitere 
Beweiserhebung die vom Verklagten bestrittene Hülfsbedürftigkeit der Angehörigen des Arbeiters 
S. während der sieben Wochen, in welchen sie unterstützt worden sind, für dargethan zu erachten 
und Verklagter nach dem Klagantrage zu verurtheilen. 
  
In Sachen Braunschweig contra Hannover hat das Bundesamt durch zweitinstanzliches Erkenntniß vom 2. De- 
zenber 1876, unter Abänderung eines Urtheils der Hannover'schen Deputation für das Heimathwesen, ent- 
schieden, daß die Vorschrift in §. 30 lit. b. des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870, wonach für einen Heimaths- 
losen, der hülfsbedürftig aus einer Straf-, Kranken-, Bewahr= oder Heilanstalt entlassen wurde, der Landarmen- 
verband des Bezirks, aus welchem die Einlieferung erfolgt, zu sorgen hat, auch dann Anwendung finde, 
wem öffentliche Armenpflege nicht gerade bei oder unmittelbar nach der Entlassung in Anspruch genommen 
worden ist, und die Entscheidung begründet, wie folgt: 
Der domizillose Franz A. ist, weil er an einer trachomatösen Augenentzündung 
litt, am 18. September 1875 der Armenpflege des klagenden Armenverbandes der Stadt 
Braunschweig anheimgefallen, nachdem er fünf Tage zuvor aus dem Werkhause in Moringen 
(Provinz Hannover) entlassen worden war. Seine Einlieferung in diese Besserungs= resp. 
Strafanstalt, in welcher er eine mehrmonatliche Korrektionshaft zu verbüßen hatte, ist von 
Lüneburg aus erfolgt. Unzweifelhaft ist daher der verklagte Landarmenverband der Pro- 
vinz Hannover zur Erstattung der dem Kläger erwachsenen Armenpflegekosten nach §. 30 
lit. b. des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 verpflichtet, wenn, wie Kläger behauptet, 
Franz A. aus dem Werkhause zu Moringen in hülfsbedürftigem Zustande entlassen worden 
war. Dies wird vom Verklagten entschieden in Abrede gestellt. Aus dem feststehenden 
Sachverhalt hat jedoch das Bundesamt die Ueberzeugung gewonnen, daß Franz A. in der 
That nicht erst in Braunschweig hülfsbedürftig geworden ist, sondern schon bei seiner Ent- 
lassung aus dem Werkhause hülfsbedürftig war. « 
Derselbe ist unbestritten im Juli 1875 während seiner Korrektionshaft von neuem 
an einer Augenentzündung erkrankt, welche schon im Jahre 1874 eine länger dauernde 
ärztliche Behandlung erforderlich gemacht hatte und bis zu seiner Entlassung in einem ver- 
dunkelten Raume der Anstalt zu Moringen untergebracht gewesen. Als er am 13. Sep- 
tember 1875, neun Tage vor dem Ablaufe der bestimmten Detentionszeit, in Freiheit ge- 
setzt wurde, war sein Augenleiden nach der eigenen Darstellung des Verklagten noch nicht 
geheilt;es wurden ihm daher ein grüner Augenschirm und eine blaue Brille mitgegeben. 
Auch wurde er von einem Aufseher der Anstalt nach dem Bahnhofe in Northeim geführt, 
wo ihm ein Fahrbillet nach Kreiensen (Braunschweig) und ein von A. zu 7 Mark ange- 
gebener Geldbetrag eingehändigt wurde, um von Kreiensen aus die Reise nach Berlin fort- 
setzen zu können. Es mag ganz dahin gestellt bleiben, ob A. bei seiner Ankunft in Kreiensen 
nur 7 Mark oder so viel Geld besaß, um Berlin zu erreichen, wie Verklagter be- 
hauptet, ohne die Geldsumme namhaft zu machen. Jedenfalls hatte er weder in Kreiensen 
noch bei der Entlassung in Moringen die Mittel, welche ihn in den Stand setzten, seine 
Augenkrankheit auf eigene Kosten vollends kuriren zu lassen, und da er augenscheinlich auch 
nicht die Fähigkeit hatte, sich den Lebensunterhalt und die Mittel zur Heilung seiner Krank- 
heit durch Arbeit zu verschaffen, so war er nothwendig auf öffentliche Unterstützung ange- 
  
  
 
	        
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