Object: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
50 Malerei und Plastik. XI. Buch. 
  
möglich, wenn der Reichtum der künstlerischen Phantasie sich in solchem Mae angehäuft 
hat, daß die Tafelmalerei ihn nicht mehr fassen kann. In jedem Fall müssen wir es als 
Tatsache anerkennen, daß der Grundgedanke der neuzeitlichen Malerei entsprechend dem 
individualistischen Charakter unserer Zeit, „das wahrnehmende Subjekt zu verehren und 
an die Stelle der Treue gegen das Objekt die Treue gegen das subjektive Empfinden 
zu stellen“, stetig und allerorten, wenn auch nicht überall gleich stark durchgedrungen 
ist. Gegen die Mitte der neunziger Zahre dürfte ungefähr die eigentliche Eindruckmalerei 
mit dem farbenverschluckenden Sonnenlicht in Deutschland den Kulminationspunkt er- 
reicht haben. Man wünscht seit dieser Zeit eine mehr flächige und auch farbensattere 
Malerei bei starker Durchleuchtung festzuhalten, die farbigen Werte zu geschlossenerer 
Farbenwirkung zusammenzuziehen. Unter erneutem französischen Einfluß (Cézanne und 
vornehmlich BVan Gogh) wuchs diese Richtung und wurde allmählich in stetig sich steigern- 
der Weise zur maßgebenden Auffassung. Gleichzeitig gewann allmählich, trotz impres- 
sionistischer Auffassung der Einzelheiten, die Linie wieder an Geltung, so daß sie und 
die lichtvollen Farbflächen die Anlage der jüngst gemalten Landschaften mit fast archi- 
tektonischem Zwange beherrschen. 
Der Widerstand gegen die Impressionisten und verwandte Auf- 
fassungen, der zu keiner Zeit völlig niedergerungen gewesen war, 
nahm seine Kraft aus dem innersten künstlerischen Empfinden des deutschen Volkes, welchem 
reine Formvorstellungen, die „Übertragung der Natur in eine neue Einheit“ nicht genügen. 
Wir Deutsche erfreuenuns an der Gedankenmalerei, wir wollen im Kunstwerk uns selbst 
genießen. Wer dies nicht verstehen kann, oder dem Deutschen hier andere künstlerische 
Ideale wünscht, ist uns blutfremd. Man empfand deshalb im allgemeinen in Deutschland 
für den reinen Impressionismus verhältnismäßig wenig Liebe. Er besaß zwar in seiner 
erlernbaren Sachlichkeit für viele Tharakter, aber keine hinreißende innere Macht. Man 
empfand ihn direkt als fremdartig, und warf den Malern vor, daß das Nur-Malen die 
Armut der Geistesbildung fördere, und hindere, große künstlerische Gedanken zu fassen, aus 
der Wirklichkeit den Anstoß zur Weltschilderung zu nehmen. Ourch die Untertänigkeit 
unter die angeschaute Natur mit ihren Zufallswerten war der Künstler überdies zwar über 
den literarischen Vorwurf hinausgelangt, aber in anderer Hinsicht wieder unter die Herr- 
schaft eines Stoffes, eben der „richtig“ wiederzugebenden Natur gelangt. Auch war 
die Abkehr von der Anekdote letzten Endes keine so unbedingte, wie es die Wortführer 
wahr haben wollten. Man floh zwar, um der Gefahr der Verschönerung zu entgehen, 
die Lebenskreise, welche durch ein gewisses Maß kultureller Entwicklung eine bestimmte 
Form erhalten haben, und wandte sich den niedrigeren Volksschichten zu, in der berech- 
tigten Meinung, hier einfachere, unmittelbarere Lebensäußerungen und damit mehr 
die „Form an sich“ zu finden, einem gewissen „Znhalt“ konnte man deshalb doch nicht 
entgehen. Die Künstler bewiesen anderseits hier wieder, müssen wir hinzufügen, ihre 
Fähigkeit, die im Volke reif werdenden Regungen zu spüren. Die großen sozialen Gesetz- 
gebungen in den achtziger Jahren, die Aufhebung des Sozialistengesetzes hatten die 
Anteilnahme an dem Handarbeiter in hohem Maße gesteigert. Die Künstler als die 
Szenenmalerei. 
  
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