Full text: Central-Blatt für das Deutsche Reich. Elfter Jahrgang. 1883. (11)

3. Heimath-Wesen. 
  
Zur armenrechtlichen Familieneinheit. 
Der nach der Judikatur des Bundesamts für das Heimathswesen in dem Unterstützungswohnsitz-Gesetze vom 
6. Juni 1870 enthaltene Grundsatz der Personeneinheit zwischen Familienhaupt und Angehörigen wird in 
seiner Allgemeinheit nicht von allen Spruchbehörden in Armenstreitsachen anerkannt. Namentlich geht das 
Königlich sächsische Ministerium des Innern in kollegialischer Zusammensetzung von anderer Auffassung aus. 
Während die Ansicht des Bundesamts unter anderem in den „Entscheidungen des Bundesamts“, herausgegeben 
von Wohlers, Heft XI. S. 93, XIII. S. 31, näher entwickelt ist, ergiebt sich die Rechtsprechung des Königlich 
sächsischen Ministeriums des Innern aus „Fischer, Zeitschrift für Praxis und Gesetzgebung“" Bd. 3 S. 270. 
Es folgt hier für eine und die andere Auffassung je eine der neueren Entscheidungen beider Behörden. 
1. Entscheidung des Königlich sächsischen Ministeriums des Innern vom 26. April 1882 in 
Sachen Wolmirstädt c/a. Landarmenverband des Königreichs Sachsen. 
Entscheidungsgründe. Der Rekurrent sucht das eingewendete Rechtsmittel unter Berufung auf 
mehrere Entscheidungen des Bundesamtes für das Heimathwesen durch das Anführen zu rechtfertigen, daß 
die einem Familiengliede gewährte Unterstützung als mittelbar dem Familienhaupte und beziehentlich auch 
sämmtlichen übrigen Familiengliedern zu theil geworden anzusehen sei, weil die Familienglieder rechtlich zur 
gegenseitigen Unterstützung verpflichtet seien und zieht aus diesem Anführen die Folgerung, daß eine und 
dieselbe Familie nicht zu einer Zeit von mehreren Armenverbänden unterstützt werden könne. Er stützt sich 
in Anwendung dieser Sätze auf den vorliegenden Fall darauf, daß der zu Wolmirstedt verpflegte Max S. 
zur Zeit seiner eintretenden persönlichen Hülfsbedürftigkeit 19 Jahre alt gewesen, also noch zu der von seinem 
Vater geführten „Familie im armenrechtlichen Sinne“ gehört habe, daß ferner der Vater des genannten J. 
durch Beschluß der Kreishauptmannschaft Leipzig für landarm erklärt und bis jetzt von dem Landarmen- 
verbande des Königreichs Sachsen fortlaufend unterstützt worden sei, daß mithin Max I. gegenwärtig nicht 
von dem Landarmenverbande der Provinz Sachsen unterstützt werden könne, weil sonst die fürsorgende Thätig- 
keit zweier Armenverbände für eine Familie zu einer Zeit vorhanden ist. 
Die entscheidende zweite Instanz vermag sich diesen Ausführungen nicht anzuschließen, weil dieselben 
mit dem Gesetze über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 1870 in unlösbarem Widerspruche stehen. 
§. 30 dieses Gesetzes kennt, wenn es sich um Erstattung der durch die Unterstützung eines Hülfs- 
bedürftigen erwachsenen Kosten handelt, blos zwei Arten von Unterstützten, nämlich 
a) solche, welche einen Unterstützungswohnsitz haben, 
un 
b) solche, welche keinen Unterstützungswohnsitz haben und nach §. 5 des Gesetzes „Landarme“ 
heißen. 
Demgemäß kennt das Gesetz auch nur zweierlei Ersatzpflichtige, nämlich: 
in dem Falle unter a: den Ortsarmenverband des Unterstützungswohnsitzes; 
in dem Falle unter b: denjenigen Landarmenverband, in dessen Bezirk sich der Unterstützte bei 
Eintritt der Hülfsbedürftigkeit befunden hat. 
Gegenwärtig liegt der Fall b vor. Der Unterstützte befand sich bei Eintritt seiner Hülfsbedürftig- 
keit im Bezirke des Landarmenverbandes der Provinz Sachsen. Der Rekurrent beansprucht aber trotzdem, 
daß nicht dieser, sondern ein anderer Landarmenverband zur Erstattung der durch die Unterstützung des 
I. erwachsenen Kosten verurtheilt werde. Eine solche Entscheidung würde dem klaren Wortlaute des Ge- 
setzes zuwiderlaufen und deshalb als nichtig angefochten werden können. Denn das Gesetz macht keinen 
Unterschied zwischen solchen Landarmen, welche in einem Familienverbande stehen, und solchen, bei welchen 
dies nicht der Fall ist. Wo aber das Gesetz nicht unterscheidet, darf auch der Richter nicht unterscheiden. 
Daß nach der Gesetzesbestimmung in §. 30 b Fälle eintreten können, in welchen Angehörige der- 
selben Familie gleichzeitig von verschiedenen Landarmenverbänden unterstützt werden müssen, ist dem Gesetz- 
 
	        
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