Contents: Die Weltgeschichte. Zweiter Theil. Das Mittelalter. (2)

220 Das heilige römische Reich deutscher Nation. 
Liede. Das ganze Wesen des Ritterthums in seiner Blüte, wie in 
seiner Entartung spiegelte sich in einer eigenthümlichen poetischen Li- 
teratur ab, deren Träger und Pfleger Ritter und Höfe, deren Stoffe 
ritterliche Thaten und Tugenden, Gottes= und Frauenliebe waren. 
Von dieser ritterlichen oder hösischen Dichtung, die als Kunstpoesie im 
Gegensatze zur Volksdichtung auftrat, ist uns gar vieles erhalten und 
höchst wichtig für die Kenntniß der geselligen und sittlichen Zustände 
in den politischen Parteien des Mittelalters. Diese Gedichte sind zu- 
gleich die wichtigsten Denkmäler der mittelbochdeutschen Sprache, denn 
die damaligen Schriftsteller bedienten sich ausschließlich der lateinischen 
Sprache; auch die Urkunden wurden noch im 13. Jahrhundert in 
der Regel lateinisch abgefaßt; die ältesten deutschen Rechtebücher, der 
Sachsenspiegel (den wir nicht in seiner ursprünglichen Gestalt besitzen) 
und der Schwabenspiegel, gehören jedoch schon der zweiten Hälfte des 
13. Jahrbunderts an. 
Am frühesten erwachte der ritterliche Sang im Gebiete der proven- 
Calischen Sprache, in Südfrankreich und im nordöstlichen Spanien; hier 
wanderten die Troubadours (Erfinder, von trouver; sie waren Dichter 
und Sänger in einer Person) von Burg zu Burg, von einem Feste zum 
andern, und fanden allenthalben gastliche Aufnahme, denn ihre Lieder 
waren die Würze der geselligen Unterhaltung für Herren und Frauen, 
und die Vornehmsten suchten ihren Ruhm darin, auch als Dichter zu 
glänzen oder doch die Dichtkunst auf jegliche Weise zu hegen und zu 
pflegen. Während Frauenliebe der Grundton der provencalischen Dich- 
tung war und blieb, wurde in Nordfrankreich und England vorzugs- 
weise die ritterliche Heldendichtung gepflegt, welche tbeils die Thaten und 
Sagen von Karl dem Großen, von König Artus, dem walisischen Helden 
und dessen Genossen, und vom heiligen Gral (die Schüssel des heiligen 
Abendmahls) zu ihrem Mittelpunkte machte, theils Helden der beidnischen 
Vorzeit, Alerander den Großen und Aeneas, zu christlichen Rittern um- 
schuf und besang. 
Die Kreuzzüge verliehen dem ganzen Leben der Zeit und nament- 
lich auch der Dichtkunst höheren Schwung und religiöse Weihe, das ferne 
wunderbare Morgenland in seinen Beziehungen und Kämpfen mit dem 
Abendland bot der dichterischen Einbildungskraft unerschöpfliche Stoffe; 
sie brachten aber auch die Völker Europas in gegenseitigen und innigen 
Verkehr, sie lernten ihre Sprachen, Geschichten und Sagen gegenseitig 
kennen, und in dieser Zeit war es, wo auch im deutschen Reich die 
Ritterdichtung aufkam und schönere Blüten trieb als irgendwo (1150 
bis 1240). 
Unter den Hohenstaufen, welche die Dichtkunst liebten und fast 
sämmtlich selbst Dichter waren, erreichte die Dichtkunst ihre höchste Voll-