Full text: Volkstümliches aus dem Königreich Sachsen auf der Thomasschule gesammelt. Erstes Heft. (1)

Vorwort. V 
er des Volkstums künftig um so besser achten, je deutlicher 
das Bewußtsein von dessen Werte in ihm ersteht. Wie 
ganz anders erscheinen dem Kleinen jene Kinderreime, wenn 
er hört, daß sie kein nichtiger Tand sind, sondern zu einem 
großen Ganzen gehören, in dem sich das deutsche Wesen 
offenbart. Wer soll ihm das sagen, wenn nicht die Schule? 
Gehen doch die meisten Menschen achtlos an jenen schlichten, 
kunstlosen Liedchen vorüber. Der Sinn für die liebliche 
Einfalt, die reizende Harmlosigkeit, die urwüchsige Frische, 
die kühne, oft wunderliche Phantasie dieser Dichtung ist im 
Schwinden. Und doch hat sich jeder selbst einmal an solchen 
Dingen entzückt, hat Geist und Gemüt daran gebildet, spielend 
gelernt. Gewiß ist im deutschen Kinderliede manch sinnloses 
Gewirr von Worten; aber selbst dies reizt zu näherer Be- 
obachtung. Meist zeigt sich darin die Freude des Kindes 
am Rhythmus oder am Wohlklang der Laute. Manches ist 
auch im Laufe der jahrhundertelangen mündlichen Fort- 
pflanzung unverständlich geworden, wie die Münze bis zur 
Unkenntlichkeit abgegriffen wird. Wer über diese stammeln- 
den Gereimsel zu spotten wagt, den muß man bedauern. Er 
hat die traumhafte Lust verlernt, sich in die sonnige Kind- 
heit zurückzuversetzen. 
Wie mit dem Kinderlied, so ist's mit dem Kinderspiel. 
Seit längst verklungenen Tagen blüht es im Verborgenen. 
Der Erwachsene kümmert sich nicht darum. Und doch ist 
schon die uralte Vereinigung von Wort, Weise und rhyth- 
mischer Bewegung, oft auch der Inhalt der Spiellieder be- 
deutend. Auch davon darf man dem wachsenden Verständnis 
des Kindes reden. Und wird es älter, so wird es auch über 
Sitte und Brauch und Aberglauben nachdenken. Es wird 
ahnen, daß altehrwürdige Vorstellungen darin fortleben, daß 
das Volk gerade hierhinein all sein Fühlen und Denken ge- 
legt hat, gerade hierhinein die Poesie, die ihm das Leben 
verschönen soll. 
Aus solchen Erwägungen bin ich zu dem Versuch g 
führt worden, auf der Leipziger Thomasschule Volkstümliches
	        
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