96 II. Reichsgesetzgebung. Art. 4.
A. Allgemeiner Teil.
I. Die Gesetzgebung.
1. Die Zuständigkeit des Reichs und der Einzelstaaten
nach Art. 4.
Das Deutsche Reich ist aus der Vereinigung einer Reihe von selb-
ständigen Staaten entstanden. Diese Staaten haben damit keineswegs ihre
Existenz als selbständige Staatswesen verloren, aber sie haben sich zugunsten
des Reichs einzelner Staatsfunktionen entäußert und find in dieser Be-
ziehung auf die Machtvollkommenheiten beschränkt, die fie als Mitglieder
des Reichs im Bundesrate ausüben. Hierzu gehört insbesondere das Recht
der Gesetzgebung für die im Art. 4 und an einigen anderen Stellen der
Reichsverfassung bestimmt bezeichneten Gebiete. Art. 4 enthält die Grund-
lage für die materielle Macht des Reichs. Denn es ist die materielle
Kompetenz, die im Bundesstaate für die Macht der Gesamtheit gegenüber
den Gliedern maßgebend ist. Die Reichsverfassung hat es vermieden, zur
Charakterisierung der juristischen Natur des Reichs bestimmte Definitionen
im Sinne der von der staatsrechtlichen Theorie geprägten Schlagworte
— Bundesstaat, Staatenbund — zu geben, aber für die tatsächliche
Geltung des Reichs gegenüber den Einzelstaaten sind durch Art. 4 klare
Vorschriften erlassen; es find durch Art. 4 die Grenzen gezogen, innerhalb
deren sich die Macht des Reichs entfalten kann. Dem Reich find diese
Sachgebiete durch Art. 4 zwar noch nicht exklufiv übertragen, aber es ist
der Rahmen bezeichnet und das Programm für die zukünftige Reichs-
tätigkeit aufgestellt.
Für alle Fragen der Zuständigkeit des Reichs bildet den Ausgangs-
punkt der Grundsatz, daß das Reich nur über die ihm ausdrücklich zu-
gewiesenen Machtvollkommenheiten im Verhältnis zu den Einzelstaaten
verfügt — ebenso Laband II S. 190 f. III S. 337, v. Seydel S. 59, Meyer
S. 233, Arndt S. 42. 156, v. Jagemann S. 65; ein im konst. Reichstag
vom Abg. Zachariä (Anl. 1 S. 45, 46 St. B. v. 1867 S. 315) gestellter
Antrag, dies ausdrücklich festzustellen, wurde abgelehnt, aber offenbar nur
deshalb, weil er für überflüssig erachtet wurde.
Innerhalb der Kompetenz des Reichs ist entsprechend dem Wortlaut
des Art. 4 zwischen der Gesetzgebung und der Beaussichtigung zu unter-
scheiden. Die Unterscheidung beruht darauf, daß nicht auf allen Gebieten,
die der Gesetzgebung des Reichs unterliegen, das Reich einen entsprechenden
Verwaltungsapparat ausgebildet hat, um für die Ausführung dieser Gesetze
und die ganze dazu nötige praktische Verwaltung selbst sorgen zu können.
Vielmehr ist dem Reich die eigene Verwaltung nur für die Marine, die
Schutzgebiete, die Post und Telegraphen, die Diplomatie, das Konsulat-
wesen, einen Teil der Gerichtsbarkeit letzter Instanz und einige andere
Angelegenheiten eingeräumt worden, während im übrigen die praktische
Ausführung und Verwaltung der im Art. 4 bezeichneten Gebiete Sache der
Einzelstaaten ist. Laband 1 S. 97 f. hat das Verhältnis dahin bezeichnet,
daß die Einzelstaaten bezüglich dieser der Gesetzgebung und Beaufsichtigung des
Reichs unterworfenen Staatsfunktionen als Selbstverwaltungskörper des
Reichs anzusehen seien, indem er davon ausgeht (S. 98 A. 2), daß „der