II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 97
Begriff der Selbstverwaltung überall da Anwendung findet, wo eine obere
Gewalt die ihr zustehenden Hoheitsrechte nicht unmittelbar mittels eines
eigenen zu ihrer ausschließlichen Disposition stehenden Apparates durchführt,
sondern sich darauf beschränkt, die Normen für die Ausübung dieser Hoheits-
rechte aufzustellen und ihre Durchführung zu beaufsichtigen, während die
Durchführung selbst ihr untergeordneten politischen Körpern übertragen oder
überlassen ist". Man kann dieser Begriffsbestimmung der Selbstverwaltung
durchaus beitreten, aber für das Verhältnis zwischen Reich und Einzelstaaten
kann der Begriff der Selbstverwaltung höchstens als ein Gleichnis heran-
gezogen werden. Die Beziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten sind nicht
identisch mit dem Verhältnis, in welchem ein Einzelstaat zu den ihm
untergeordneten Selbstverwaltungskörpern: Provinzen, Kreise, Stadt= und
Landgemeinden — steht. Eine Unterordnung in diesem Sinne besteht
zwischen dem Reich und den Einzelstaaten nicht, weil die Einzelstaaten selbst
es find, die durch ihre Regierungen und die aus ihrem Landesgebiete zum
Reichstage entsandten Volksvertreter den Willen des Reichs bilden, soweit
es sich um die Gesetzgebung handelt, und was die Beaufsichtigung anbetriftt,
so kommen neben den Funktionen des Kaisers (Art. 17) überhaupt nur die
Regierungen der Einzelstaaten in Betracht, die in ihrer Gesamtheit für die
meisten Verwaltungszweige das höchste Auffichtsorgan bilden. Es ist wohl
richtig, daß formell das Reich ein von den Einzelstaaten verschiedenes
Rechtssubjekt darstellt und daß der Vertreter der Verbündeten Regierungen,
der Bundesrat, ein anderes Organ ist, als die einzelnen Regierungen zu-
sammen; es ist endlich zuzugeben, daß der Reichstag die Vertretung des
gesamten deutschen Volkes und nicht die Volksvertretung der Einzelstaaten
bildet, aber diese Verschiedenheit beruht nur auf der für die Institutionen
des Civilrechts geschaffenen fiktiven Vorstellung, daß die aus einer Mehr-
heit von phyfischen Personen bestehende juristische Person als etwas anderes
angesehen wird, als alle physische Personen, aus denen sie sich zusammen-
setzt. Zwischen dem Reich und den Einzelstaaten kann deshalb von einer
Unterordnung nur insofern die Rede sein, als der Einzelne dem Willen der
Gesamtheit unterworfen ist, aber jeder Einzelne ist ein Mitglied der
Gesamtheit. Dies gilt nicht in gleicher Weise von den Personen und
Organen, welche die Leitung des Staates einerseits und die Leitung der
dem Staate untergeordneten Provinzen, Kreise und Gemeinden innehaben.
Hier besteht regelmäßig zwischen denen, die das Aufsichtsrecht ausüben, und
denen, die dem Aufsichtsrecht unterliegen, sowie zwischen denen, die das
Recht der Gesetzgebung ausüben, und denen, für welche die Gesetze er-
lassen find, keine Identität oder wenigstens keine innere Homogenität
der Personen, wie dies im Verhältnis zwischen Reich und Einzelstaaten
der Fall ist. Die Tatsache, daß die Gesamtheit der fünfundzwanzig für
die Ausführung der Reichsgesetze zuständigen und gemäß Art. 4 der Auf-
sicht des Reichs unterliegenden Einzelstaaten selbst zusammen — in Ver-
bindung mit dem Kaiser (Art. 17) — das Ausfsichtsorgan bilden und die
„obere Gewalt“ im Sinne der oben wiedergegebenen Begriffsbestimmung
der Selbstverwaltung darstellen, findet in dem Verhältnis des Einzelstaats
zu den ihm untergebenen Selbstverwaltungskörpern kein Analogon, und
nur mit dieser Einschränkung kann das Gleichnis als richtig anerkannt
werden.
Dambitsch, Deutsche Reichsverfassung. 7