Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 109 
organe würden, wenn die gütliche Verständigung nicht gelingt, stets dem 
Einwand ausgesetzt sein, daß fie sich nicht in den Grenzen ihrer Zuständig- 
keit bewegten. Immerhin mag in der Praxis diese freiwillige Verständigung 
der Einzelstaaten mit dem Reich in Angelegenheiten, deren Beaufsichtigung 
nicht zur Kompetenz des Reichs gehört, eine nicht unbedeutende Rolle spielen, 
wie aus nachstehender Außerung hervorgeht, die der Staatssekretär des 
Reichsjustizamts Nieberding in der Reichstagssitzung v. 26. Febr. 1904 
getan hat: 
„Auch wo die verfassungsmäßige Kompetenz fehlt, ist eine Verständigung 
mit den Einzelstaaten möglich durch verständnisvolles Eingehen der 
Regierungen auf die ihnen unterbreiteten Gedanken und in dem Bewußt- 
sein, daß die Einzelstaaten und die Reichsverwaltung auf vielen Gebieten 
durchaus dieselben Ziele verfolgen." 
4. Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers für die 
Geltendmachung des Aufsichtsrechts. 
Da dem Reichskanzler durch Art. 17 das Aufsichtsrecht übertragen ist, 
so besteht für ihn die staatsrechtliche Pflicht, diese Befugnis bei allen sich 
bietenden Gelegenheiten auszuüben, d. h. im Rahmen seiner Zuständigkeit, 
wie fie durch die Reichsverfassung, insbesondere Art. 4 und die diesen Art. 
ausführenden Reichsgesetze abgegrenzt wird. Für die Erfüllung der Pflicht 
ist der Reichskanzler nach Maßgabe des Art. 17 verantwortlich. Der 
Reichstag kann deshalb die Unterlassung der Ausübung des Ausfsichtsrechts 
zur Sprache bringen, jedoch nur unter der Voraussetzung, die auch für die 
Geltendmachung des Aufsichtsrechts praktisch höchst bedeutungsvoll ist, daß 
der in dem Einzelstaat eingerichtete Instanzenzug erschöpft sein muß, weil 
erst, wenn die letzte Instanz in dem Einzelstaat gesprochen hat, der Fall 
so angesehen werden kann, als ob der Staat als solcher — d. h. die Staats- 
regierung, eventuell Regierung und Landtag —, eine bestimmte Haltung 
einnimmt, für die er vom Reich zur Verantwortung gezogen werden kann. 
Handelt es sich nur um eine Entscheidung nachgeordneter Instanzen, so ist 
für ein Eingreifen des Reichs kein Raum, weil der landesrechtlich geordnete 
Instanzenzug nicht gestört werden darf — wenn es geschehen würde, so wäre 
es nur möglich unter Verletzung der Verfassung des Einzelstaats. Die 
Entscheidung einer unteren Instanz aber, die durch die höhere Instanz um- 
gestoßen wird, stellt im Verhältnis zum Reich für den Einzelstaat eine 
innere Angelegenheit dar; er ist insoweit Herr im eigenen Hause und braucht 
sich dem Eingriff des Reichs erst dann zu unterwerfen, wenn er nicht im- 
stande ist, trotz Erschöpfung des Instanzenzuges das Reichsrecht so zu ver- 
wirklichen, wie es vom Reich als geltend und in Kraft befindlich anerkannt 
wird; vgl. Staatssekretär des Reichsjustizamts Nieberding in der Reichstags- 
fitzung v. 22. Nov. 1902 St. B. 6535 D. 
Die Wahrnehmung der Aussichtsbefugnisse ist auf Grund des Art. 17 
ausschließlich Aufgabe des Reichskanzlers und nicht Sache des Reichstags, 
doch ist es anerkannte Praxis, daß der Reichskanzler und seine Stellvertreter 
im allgemeinen auch über diese Fragen sich im Reichstage äußern und sie 
damit zum Gegenstand der parlamentarischen und öffentlichen Kritik machen. 
Gegenüber einer in der Reichstagssitzung v. 16. Juni 1904 St. B. 3218 von 
dem Abg. Gamp geäußerten Bemerkung, daß es für den Reichstag nicht
	        
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