II. Reichsgesetzgebung. Art. 5. 171
vertretung notwendig, und der Volksvertretung konnte wie in jedem modernen
Staat ein Wirkungskreis nur durch die Beteiligung an der Gesetzgebung
geschaffen werden. Zum zweiten Faktor der Gesetzgebung aber wurde der
Bundesrat bestimmt und in Anbetracht des durch Art. 6 R.V. festgesetzten
Verhältnisses der Bundesratsstimmen, über welche die Regierungen der Einzel-
staaten verfügen, ergibt sich aus dieser Regelung, daß die kleineren Einzel-
staaten weit über ihren Anteil an dem Territorium und an der Bevölkerung
des Reichs und weit über ihre direkten und indirekten Beiträge zu den
militärischen und finanziellen Bedürfnissen des Reichs an der Gesetzgebung
beteiligt find, so daß man hierin einen Ausgleich für die aufgegebenen
militärischen und zivilen Exekutiv= und gesetzgeberischen Befugnisse finden darf.
Eine Bestätigung dafür, daß diese Anschauung bei der Beratung des Ent-
wurfs der Verfassung im Reichstag vertreten war, kann insbesondere aus
den Ausführungen entnommen werden, die der Historiker und Abg. v. Sybel.
in der Sitzung des konst. Reichstags v. 23. März 1867 St. B. 827 zu diesem
Punkte gemacht hat.
2. Die Frage der Beteiligung des Kaisers
an der Reichsgesetzgebung.
Zu der auch in den vorerwähnten Ausführungen des Abg. v. Sybel.
berührten Frage, ob der Kaiser an der Reichsgesetzgebung beteiligt sei, ist
folgendes zu bemerken: Die Vorschrift des Art. 5, daß die Übereinstimmung
der Mehrheitsbeschlüsse des Bundesrats und Reichstags zu einem Reichs-
gesetz erforderlich und ausreichend ist, wird eingeschränkt durch Art. 2 R.V.,
wonach die Reichsgesetze ihre verbindliche Kraft nur durch die Verkündigung
von Reichswegen erhalten, und diese Verkündigung ist nach Art. 17 R.V.
Sache des Kaisers. Wie bei Art. 2, III 1 S. 46 ff. ausgeführt ist, hat der
Kaiser das Recht und die Pflicht, das verfassungsmäßige Zustandekommen
der Reichsgesetze vor deren Verkündigung zu prüfen, andererseits entspricht
es der Tendenz der Reichsverfassung, daß die gehörig zustande gekommenen
Reichsgesetze verkündet werden müssen. Die verfassungsmäßige Feststellung
des Inhalts der Reichsgesetze ist also nicht von der Zustimmung des Kaisers
abhängig, sondern der Kaiser ist an der Reichsgesetzgebung nur im Rahmen
der ihm durch Art. 2 und 17 gegebenen Befugnisse beteiligt. Dies soll die
Vorschrift, daß die Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse des Bundesrats
und Reichstags zu einem Reichsgesetz erforderlich und „ausreichend“ ist, zum
Ausdruck bringen. Der Sinn der Bestimmung tritt um so klarer hervor,
wenn man berücksichtigt, daß für Art. 5 in Ansehung seiner Fassung — nicht
bezüglich seines Inhalts — offenbar der Wortlaut des Art. 62 der preuß.
Verfassungsurkunde zum Vorbilde gedient hat. Art. 62, soweit sein Inhalt
hier von Bedeutung ist, lautet:
„Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König
und durch zwei Kammern ausgeübt.
Die Übereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu jedem
Gesetze erforderlich.“
Deshalb kann darin, daß man es unterlassen hat, im Art. 5 die Zu-
stimmung des Kaisers für erforderlich zu erklären, nur der klare Ausdruck
der Reichsverfaffung gefunden werden, daß diese Zustimmung nicht erforderlich
sein soll, mag im übrigen auch, was den Weg der Reichsgesetzgebung und