II. Reichsgesetzgebung. Art. 5. 179
einem bereits gefaßten Beschlufse des Bundesrats ohne Bedeutung und
steht der Publikation eines Reichsgesetzes nicht entgegen. Das verfassungs-
mäßige Recht des Volks, durch Vermittelung des Reichstags an der Gesetz-
gebung teilzunehmen, wird in keiner Weise beeinträchtigt. Auch wenn
man die Frage außer Betracht läßt, ob bei jeder Neuwahl die jeweilige
Volksstimmung rein zum Ausdruck kommt und ob die für die Reichstags-
wahlen den Schwerpunkt bildenden großen Massen des Volks für jede
schwebende Maßregel der Gesetzgebung ein bestimmtes, klares, einen eigenen
Willen und eine eigene Meinung gestattendes Verständnis haben (pval.
Laband D. Jur. Zeit. 1904 S. 323), auch wenn man von dieser zweifelhaften
Frage absieht, liegt in dem Verfahren der Reichsverwaltung nichts, was die
konstitutionellen Rechte des Volks schädigt; diesen Rechten wird vollkommen
dadurch Rechnung getragen, daß jeder Beschluß, den der Reichstag gefaßt hat,
einen Faktor bildet, an dem der Bundesrat nicht vorübergehen kann, sondern
der ihn nötigt zu diesem Beschlusse seinerseits gemäß Art. 7 Ziff. 1 R.V.
Beschluß zu fassen. Andert sich die Stimmung der für den Ausfall der
Neuwahlen entscheidenden Volkskreise und entsteht ein Reichstag, der in
der betreffenden Frage der Gesetzgebung andere Anschauungen hat, so kann
dieser Reichstag neue Beschlüsse fassen, aber seine Beschlüsse haben natürlich
keine rückwirkende Kraft; dem Bundesrat gegenüber gilt der von dem alten
Reichstag gültig gefaßte Beschluß wie jeder andere. Gibt der neue Reichs-
tag ausdrücklich einen anderen Willen kund, noch ehe der Bundesrat den
Beschluß des alten Reichstags angenommen hat, so wird vielleicht der
Bundesrat aus politischen Erwägungen es vorziehen, auf den Beschluß des
früheren Reichstags nicht zurückzukommen, aber rechtliche, aus der Reichs-
verfassung zu entnehmende Gründe verhindern es nicht, daß der Bundesrat
sich unter allen Umständen an den gültig zustande gekommenen Beschluß
des früheren Reichstags hält. Hiermit steht es im Einklange, daß bei
Gelegenheit der Verhandlung über die Abänderung des Jesuitengesetzes der
Reichskanzler Fürst Bülow in der Reichstagssitzung v. 14. April 1904
St. B. 2074 mitbezug darauf, daß damals der Reichstag den Beschluß des
früheren Reichstags vom Jahre 1899 nicht widerrufen hatte, erklärte:
„Mein Verfahren würde doch nur dann im Widerspruch stehen, nicht
mit dem Buchstaben, aber auch selbst mit dem Geiste der Reichsverfassung,
wenn ich entweder den Bundesrat überrumpelt hätte oder wenn dieser
heutige Reichstag zu der Frage der Aufhebung des § 2 anders stände
als sein Vorgänger.“
Dem von Müller-Meiningen erhobenen Einwand, daß nach dem von
der Reichsverwaltung vertretenen Standpunkte der Bundesrat noch nach
5 oder 10 oder 20 Jahren Gesetzentwürfe, die ein früherer Reichstag auf
Vorrat genehmigt habe, hervorholen und ihnen unter gänzlich veränderten
Verhältnissen zustimmen könne, begegnet Laband a. a. O. S. 323 mit Recht
durch den Hinweis, daß im öffentlichen wie im Privatrecht das Prinzip
von Treu und Glauben herrscht und daß ohne bona fides das konstitutionelle
Leben nicht durchführbar ist. Übrigens wird auch von den Gegnern des
Verfahrens der Reichsverwaltung, wenigstens zum Teil, anerkannt, daß das
Recht auf eine angemessene Frist zur Vorbereitung und überlegung des
Beschlusses ein „tempus modicum et aequum“ dem Bundesrat selbst ohne
Rücksicht auf den Ablauf der Session und der Legislaturperiode zuerkannt
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