Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

180 II. Reichsgesetzgebung. Art. 5. 
werden muß, da es praktisch und technisch unmöglich ist, für einen umfang- 
reichen Initiativantrag des Reichstages in der kurzen Zeit einer Session, 
bez. wenn der Antrag kurze Zeit vor dem Ablauf der Legislaturperiode 
gestellt wird, in dem noch zur Verfügung stehenden Zeitraum die nötigen 
Erhebungen durch die Regierungen der Einzelstaaten oder die Reichsverwaltung 
anstellen zu lassen — so Müller-Meiningen a. a. O. S. 304, vgl. auch 
Frörmann, Arch. f. öff. K. Bd. 14 S. 503 ff. Aber der Begriff des tempus 
modicum ist dehnbar, und es ist nicht von der Hand zu weisen, daß der 
Bundesrat unter Umständen Jahre für die überlegung brauchen kann, wenn 
es sich nicht nur um zeitraubende zur Fassung des Beschlusses erforderliche 
Ermittelungen handelt, sondern eine bestimmte, noch nicht vorhandene, aber 
für eine absehbare zukünftige Zeit vorauszusehende Konstellation der politischen 
Verhältnisse abgewartet werden soll. In Angelegenheiten des Jefuiten- 
gesetzes hatte der Bundesrat allerdings 5 Jahre für seinen Entschluß ge- 
braucht, jedoch besteht kein Grund anzunehmen, daß länger gewartet worden 
ist, als bis die für die Entschließung geeignete politische Lage der Dinge 
eingetreten und alle außerhalb des Reichstags vorhanden gewesenen Hindernisse 
beseitigt waren. Darauf weist die Erklärung hin, die der Staatssekretär 
des Innern Graf Posadowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v. 28. Jan. 
1902, also etwa in der Mitte des fünfjährigen Zeitraums abgab, als der 
Reichskanzler von den Abg. Graf Hompesch u. Gen. wegen der Zustimmung 
des Bundesrats zu dem Beschluß des Reichstags v. 1. Febr. 1899 inter- 
pelliert wurde, wobei die Antragsteller darauf hinwiesen, daß in der im 
Dezember 1900 herausgegebenen ubersicht der vom Bundesrat auf die 
Beschlüsse des Reichstags aus der 1. Sesf. der 10. Leg.-Per. gefaßten Ent- 
schließungen mitgeteilt war, daß die Beschlußfassung des Bundesrats über 
den Gesetzentwurf noch ausstehe; der Vertreter der Reichsverwaltung erklärte 
damals: 
„Die einzelstaatlichen Regierungen werden auf dem fraglichen Gebiet 
erst nach langer und reiflicher Erwägung Beschlüsse fassen können gegen- 
über Anträgen, die eine Abänderung des gegenwärtig bestehenden gesetzlichen 
Zustandes erstreben. Es ist zu erwarten, daß sich die Verbündeten 
Regierungen noch im Laufe der gegenwärtigen Session zu der schwebenden 
Frage schlüssig machen werden und es wird der Beschluß der Verbündeten 
Regierungen dem Reichstage demnächst in der bisher üblichen Form mit- 
geteilt werden.“ 
Aus diesem Vorgang kann also nicht ein Präjudiz für eine willkür- 
liche Verzögerung der Entscheidung durch den Bundesrat oder die Reichs- 
verwaltung hergeleitet werden. Art. 7 Abs. 1 R. V. schreibt zwar keine Zeit- 
grenze für die Beschlußfassung des Bundesrats vor, aber wie in allen 
Angelegenheiten, wo es an einer formellen juristischen Schranke fehlt, 
müssen Machthaber und Behörden an ihre allgemeine politische Verant- 
wortlichkeit denken, die sofort wirksam wird, wenn eine durch die Verfassung 
zugelassene Schrankenfreiheit zu einem willkürlichen Verfahren ausgebeutet 
wird. In dieser Erwägung liegt eine ausreichende Garantie dafür, daß 
die durch Art. 7 Abs. 1 dem Bundesrat offen gelassene Befugnis, Beschlüsse 
des Reichstags beliebig lange in der Schwebe zu lassen, nicht mißbraucht, 
sondern für politische Zwecke auch nur in dem Maße benutzt wird, als es 
von den politisch verantwortlichen Stellen verantwortet werden kann.
	        
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