228 III. Bundesrat. Art. 7.
fassung zu dem gewiß nicht richtigen Schluß führen, daß, abgesehen von
den vorerwähnten Sonderfällen, zu denen allenfalls noch einige minder
wichtige hinzukämen, das Reich freie Händ hätte, alle Materien, die nicht
etwa bereits durch Gesetz geregelt find, im Wege der Verordnung zu
bestimmen. Selbst wenn man annehmen wollte, daß für alle im Art. 4
genannten Materien der Weg der Gesetzgebung durch positive Vorschrift,
nämlich durch den Eingang des Art. 4 vorgeschrieben sei, was mindestens
zweifelhaft ist, da Art. 4 an sich nur die Bestimmung hat, die Kompetenz
des Reichs von derjenigen der Einzelstaaten abzugrenzen, würde der von Zorn
vertretene Standpunkt es zulassen, daß neue Aufgaben, die das Reich anßer-
halb der im Art. 4 bezeichneten Materien in Angriff nimmt, im Wege
der Verordnung geregelt werden könnten, mögen diese Maßregeln noch so
sehr in die persönliche Freiheit und das Vermögen des einzelnen eingreifen.
Dies würde mit dem konstitutionellen Geist, der die Reichsverfassung beherrscht
und der die Verordnung stets nur als eine Rechtsquelle zweiten Grades an-
erkennen kann, nicht im Einklang stehen. Die Aufstellung eines Grund-
satzes für die Abgrenzung des Gebiets der Gesetzgebung von dem der Ver-
ordnung ist notwendig, weil darin zugleich eine wichtige Bestimmung für
die Abgrenzung der Machtvollkommenheiten der Regierung von denen der
Volksvertretung liegt, eine Feststellung, auf die kein konstitutioneller Staat
verzichten kann. Dieser Grundsatz ist dahin zu fassen, daß alle Anordnungen,
durch die für die Untertanen unmittelbar Rechte und Pflichten begründet
werden, im Wege der Gesetzgebung geregelt werden müssen — ebenso La-
band II S. 82 — ausgenommen natürlich die Fälle, für die durch pofitive
Bestimmung der Reichsverfassung oder anderer Reichsgesetze die Regelung
durch Verordnung zugelassen ist. Diese Regel ist zwar in der Reichsver-
fassung nirgends ausdrücklich bestimmt, aber mit Rückficht auf die bei Erlaß
der Reichsverfassung schon durch den Vorgang anderer Verfassungen geschaffenen
staatsrechtlichen Grundanschauungen kann angenommen werden, daß sie dem
Geiste der Verfassung entspricht. Denn nach dem modernen Staatsgedanken
ist die Volksvertretung nicht nur zur Bewilligung von Einnahmen und
Ausgaben, sondern auch zur Mitwirkung bei der Ausbildung des Rechts
berufen und für diese letztere Seite ihrer Tätigkeit läßt sich bei dem Schweigen
der Reichsverfassung ein anderer Gesichtspunkt nicht aufstellen. Daraus er-
gibt sich zugleich, daß ohne besondere reichsgesetzliche Ermächtigung weder
contra noch praeter letzem Verordnungen erlassen werden dürfen. Durch
die Verfassung ist nach Art. 7 Ziff. 2 ihr Gebiet auf Ausführungsvorschriften
zu bestehenden Reichsgesetzen beschränkt; sie müssen also intra legem erlassen
werden, wobei davon ausgegangen wird, daß intra legem sich noch alle
Rechtsvorschriften befinden, die keine dem Gesetze fremden, sondern nur solche
neuen Rechtssätze enthalten, die das Gesetz im gleichen Sinne ergänzen und
sich ihm organisch angliedern. Zu den reichsgesetzlichen Bestimmungen, die
den Erlaß von Ausführungsvorschriften im Wege der Verordnung durch
den Bundesrat zulassen, find in der Praxis auch diejenigen Bestimmungen
der Reichsverfassung gerechnet, die ihrerseits materiell so bestimmte Rechts-
sätze enthalten, daß für den Erlaß von Ausführungsvorschriften ein aus-
reichend sicher begrenzter Rahmen gezogen ist. Es ist nicht zu verkennen,
daß dem Begriff der Ausführungsvorschriften in materieller Beziehung eine
gewisse Elastizität innewohnt, doch ließ sich wohl der zugrunde liegende