Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

III. Bundesrat. Art. 7. 235 
könnte. Die „Beratung“ setzt voraus, daß der Bundesrat versammelt ist. 
Der Bundesrat ist aber nach der Verfassung nicht notwendig permanent, 
sondern tritt erst zusammen, wenn er gemäß Art. 12 vom Kaiser berufen 
und eröffnet ist. In dieses Recht des Kaisers darf nicht dadurch eingegriffen 
werden, daß ein Bundesglied zu einer Zeit, in welcher der Bundesrat nicht 
berufen und eröffnet wäre, die sofortige Beratung seines Vorschlags bean- 
spruchen könnte. Allerdings ist die praktische Bedeutung dieser Frage ganz 
gering. Denn der Kaiser macht tatsächlich von seinem Recht, den Bundes- 
rat zu schließben — Art. 12 — keinen Gebrauch mehr; der Bundesrat hat, 
wie v. Jagemann S. 88 mitteilt, nur zeitweise Ferien von unbeschlossener 
Dauer, ist aber darauf eingerichtet, sich jeder Zeit zu versammeln. 
II. Die Bildung der Mehrheit. 
Der Grundsatz ist, daß die Beschlußfassung mit einfacher Mehrheit 
erfolgt. Eine Ausnahme besteht für die in Art. 5, 37 und 78 genannten 
Fälle. Nach Art. 5 Abs. 2 gibt bei Gesetzesvorschlägen über das Militär- 
wesen, die Kriegsmarine, die Zölle und Reichssteuern die Stimme des 
Präfidiums den Ausschlag, wenn sie sich für die Aufrechterhaltung der be- 
stehenden Einrichtungen ausspricht. Nach Art. 37 gilt dasselbe für die 
Beschlußnahme über die zur Ausführung der gemeinschaftlichen Zoll- und 
Steuergesetzgebung dienenden Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen. 
Nach Art. 78 gelten. Veränderungen der Verfassung als abgelehnt, wenn 
sie im Bundesrat 14 Stimmen gegen sich haben, und diejenigen Vorschriften 
der Reichsverfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten 
in deren Verhältnis zur Gesamtheit festgestellt sind, können nur mit Zu- 
stimmung des berechtigten Bundesstaats abgeändert werden. Die Mehrheit 
ist die absolute, nicht die relative, weil, wie v. Seydel S. 146 mit Recht 
bemerkt, bei dem Mangel einer besonderen Bestimmung die Vermutung für 
die absolute Mehrheit spricht. Wenn also die Anträge so gestellt sind, daß 
mehr wie zwei Ansichten möglich find, so kann als Beschluß nur diejenige 
Meinung gelten, auf die sich mehr als die Hälfte aller in Betracht kommen- 
den Stimmen vereinigen. 
Die Vorfrage, ob überhaupt ein Fall gegeben ist, in dem von dem 
Grundsatze der einfachen Mehrheit abzuweichen ist, also ein Fall der Art. 5 
Abs. 2, 37 und 78 ist nach Meyer § 163 A. 10 S. 583 mit einfacher 
Mehrheit zu entscheiden, und mindestens bezüglich des Art. 78 teilen diese 
Ansicht u. a. Laband 1 S. 260, II S. 33 A. 3, v. Rönne II 1 S. 34f., 
Zorn I S. 431, Arndt S. 96, 192, Hänel Studien I S. 258 ff. Anderer 
Ansicht ist v. Seydel S. 146, der im Falle des Art. 78 Abs. 1 die dort 
vorgeschriebene Mehrheit auch für die Entscheidung der Vorfrage verlangt, 
während er für Art. 78 Abs. 2, Art. 5 und 37 es unentschieden läßt. Die 
Frage ist auch in der Reichstagsfitzung v. 13. Juni 1873 St. B. 1126, 
1138, 1142 und neuerdings aus Anlaß der bevorstehenden authentischen 
Interpretation des Art. 54 R.V. erörtert worden, ohne daß eine Stellung- 
nahme von Regierungsvertretern bekannt geworden ist. Die eine Lösung 
ist so unbefriedigend wie die andere. Für die erstere Alternative, die ein- 
fache Mehrheit, läßt sich geltend machen, daß die einfache Mehrheit die 
Regel bildet und daß die Ausnahmebestimmung erst Anwendung finden
	        
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