260 III. Bundesrat. Art. 9.
3. Die Beschränkung des Rechts auf die Geltendmachung
der Ansichten der Regierung.
Die Worte „Anfichten seiner Regierung“ bedeuten den Gegensatz zu
den eigenen persönlichen Ansichten des betreffenden Bundesratsbevollmäch-
tigten. Die Regel bildet übrigens, daß im Reichstage vom Bundesrats-
tische aus nicht die Ansichten einer einzelnen Regierung, sondern die zum
Beschluß erhobene Ansicht der Gesamtheit der Verbündeten Regierungen
vertreten wird. Den Vorlagen an den Reichstag müssen gemäß Art. 7 R.V.
Bundesratsbeschlüsse vorausgehen, und gegenüber diesen Beschlüssen wird die
Ansicht einer einzelnen Regierung nur noch in Betracht kommen, wenn fie von
der Ansicht der Mehrheit abweicht. Die Fälle, in denen eine in der Minder-
heit gebliebene Regierung noch Wert darauf legt, ihre Meinung im Reichs-
tage kundzugeben, werden selten bleiben. Keine Regierung dürfte sich leicht
dazu entschließen, auch nur den Bersuch zu machen, durch Berufung an
den Reichstag eine Anderung des Beschlusses des Bundesrats zu erzielen.
Es könnte sich eher darum handeln, daß eine Regierung, die in einer ganz
besonders wichtigen Angelegenheit überstimmt wird, ihren Protest im Reichs-
tage durch ihren Vertreter erklären läßt, um dadurch in breitester Offentlich-
lichkeit und an hervorragender Stelle ihre politische und historische Verant-
wortung für den Beschluß des Bundesrats abzulehnen; aber auch darin
würde eine eklatanter Hinweis auf die Uneinigkeit der Berbündeten Re-
gierungen liegen, der dem Prestige des Reichs nicht förderlich sein könnte;
vgl. auch v. Jagemann S. 89.
Die Bestimmung des Art. 9 bezieht sich in erster Reihe auf den Regel-
fall, daß nicht die Anficht einer einzelnen Regierung, sondern die der Ver-
bündeten Regierungen vertreten wird. Denn wenn im Art. 9 der Umstand,
daß die Ansicht einer Regierung „von der Majorität des Bundesrats nicht
adoptiert worden ist“, als ein besonders gearteter Fall behandelt wird,
muß als Normalfall vorausgesetzt werden, daß die Bundesratsmitglieder das
Wort ergreifen für die von der Mehrheit des Bundesrats angenommene
Ansicht. Natürlich ist in diesem Normalfalle zwischen der Ansicht der eigenen
Regierung und dem Standpunkt der Gefamtheit der Verbündeten NRegierungen
nicht mehr zu unterscheiden, und Art. 9 erstreckt sich deshalb auch auf alle
diejenigen Fälle, in denen der Reichskanzler und seine Stellvertreter, die sämt-
lich gleichzeitig das Amt von Bundesratsbevollmächtigten bekleiden, namens
der Verbündeten Regierungen das Wort ergreifen.
Die Bestimmung des Art. 9 bezieht sich zwar auf die Geltendmachung
persönlicher Ansichten nicht; jedoch liegt im Art. 9 kein Verbot, daß Bundes-
ratsmitglieder aus besonderen Gründen das Wort zur Kundgebung ihrer
persönlichen Ansichten nehmen. Solche Erklärungen verpflichten natürlich
die Verbündeten Regierungen ebensowenig wie die eigene Regierung des
Sprechers, und der letztere trägt die volle Verantwortung für seine Außerungen.
Art. 9 weist darauf hin, daß, soweit verbindliche Erklärungen dem Reichs-
tage gegenüber für die Verbündeten Regierungen oder eine von ihnen ab-
gegeben werden sollen, dies nicht irgendwo, sondern an der für die Geltend-
machung der politischen Verantwortung vorzugsweise bestimmten Stelle,
nämlich im Reichstage geschehen soll, und zwar find hierzu die öffentlichen
Sitzungen des Plenums am besten geeignet, weil dann auch alle anderen