Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

262 III. Bundesrat. Art. 9. 
die Debatte zu leiten, nicht berechtigt ist, die Mitglieder des Bundesrats 
zu unterbrechen. Denn damit würden fie der Möglichkeit beraubt werden, 
die von ihnen zu vertretenden Ansichten ihrer Regierung frei zu äußern. 
Bestimmungen der G.O. können daran nichts ändern. Auch zur Sache 
dürfen die Mitglieder des Bundesrats nicht verwiesen werden. Der Wort- 
laut des Art. 9 gibt ihnen das Recht, bei jeder Gelgenheit im Reichstage 
die Ansichten ihrer Regierung kundzugeben. Es ist wohl vorausgesetzt, daß 
sie sich dabei der geschäftsordnungsmäßigen Form der Debatte anschließen, 
doch ist der Präsident des Reichstags hierüber nicht zum Richter bestellt. 
Daß das Auftreten der Bundesratsmitglieder ein disziplinares Einschreiten 
erfordert, ist ein Fall, mit dem die Reichsverfassung nicht gerechnet hat. 
Jedesfalls ist nach dieser Richtung weder dem Plenum noch dem Präfidenten 
des Reichstags eine Rügebefugnis gegeben. In der Sitzung des konst. 
Reichstags v. 16. April 1867 St. B. 727 fragte Fürst Bismarck — zweifellos 
nur aus Courtoisie — ob er eine kurze, nicht zu der gerade vorliegenden 
Sache gehörige Bemerkung machen dürfe. Der Präsident des Reichstags 
Simson erwiderte darauf: 
„Ich mache darauf aufmerksam, daß es mir gar nicht zugestanden 
hätte, den H. Präsidenten der Bundeskommissarien auf die Sache zu 
verweisen, da er als Bundeskommissar in jedem Augenblick das Wort 
verlangen kann.“ 
Die preuß. Verfassungsurkunde enthält im Art. 60 eine dem Art. 9 R.V. 
entsprechende Bestimmung: 
„Die Minister sowie die zu ihrer Vertretung abgeordneten Staats- 
beamten haben Zutritt zu jeder Kammer und müssen auf ihr Verlangen 
zu jeder Zeit gehört werden."“ 
Die Frage, ob auf Grund dieser Bestimmung die Minister das Recht 
haben, eine Unterbrechung durch die Präfidenten der Kammern abzulehnen, 
kam im Abgeordnetenhause im Februar und Mai 1863 zur Erörterung 
(St. B. 343b, 1265 ff., 1322). Fürst Bismarck bestritt dem Präfidenten 
des Abgeordnetenhauses das Recht, die Vertreter der Regierung zu unter- 
brechen, um sie zur Ordnung zu verweisen. Das Abgeordnetenhaus trat 
seinem Präsidenten bei. Die Ansicht des Fürsten Bismarck, der auch das 
Staatsministerium sich anschloß, wurde durch Königliche Botschaften v. 21. 
und 26. Mai 1863 bestätigt. 
Dagegen hat in der rechtlich gleichstehenden Frage, ob der Präsident 
der Kammer die Minister unterbrechen dürfe, um sie zur Sache zu ver- 
weisen, der Präsident des Abgeordnetenhauses v. Bennigsen in der Sitzung 
v. 16. Jan. 1874 selbst angenommen, daß ihm ein solches Recht nicht zu- 
stehe. Der Abg. Lasker führte aus, daß aus der Befugnis der Minister, 
jederzeit das Wort zu nehmen, sich das Recht ergebe, auch über heterogene 
Dinge zu sprechen. Die entgegengesetzte Anficht vertraten die Abg. Windt- 
horst und v. Mallinckrodt. Ob durch eine nach Schluß der Debatte getane 
Ääußerung eines Ministers oder — im Reiche — eines Mitgliedes des 
Bundesrats die Debatte von neuem eröffnet wird und ob durch eine nicht 
zur Sache gehörige Außerung eines Ministers bez. Mitgliedes des Bundes- 
rats die Debatte über diesen Punkt eröffnet wird, ist lediglich eine Frage 
der G. O. des Parlaments. Das Recht der Mitglieder des Bundesrats 
bestimmt sich nur nach Art. 9 R.V.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.