Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

III. Bundesrat. Art. 9. 263 
Einen vermittelnden Standpunkt hat für diese Frage der Präsident 
des Reichstags Simson in der Reichstagssitzung v. 14. Mai 1873 St. B. 655 
durch nachstehende Außerung bezeichnet: 
„Der eigentlichen Disziplin des Präsidenten und dem eigentlichen 
Ordnungsrufe kann niemand unterliegen, der nicht an der Wahl des 
Präsidenten sich beteiligt hat oder doch hätte beteiligen können, d. h. nie- 
mand, der nicht ein Mitglied des Hauses ist. Wenn in anderen volks- 
vertretenden Versammlungen, wie in der preußischen, Mitglieder der 
Regierung zugleich Mitglieder der Volksvertretung sein können und es 
find, so unterliegen sie, wie ich annehme, dem Ordnungsrufe des Prä- 
sidenten ganz genau so wie andere Mitglieder. Wenn aber in einer 
Versammlung, wie der Reichstag, sogar vermöge der Verfassung niemand 
gleichzeitig die Eigenschaft eines Mitgliedes der Versammlung und die 
eines Mitgliedes des Bundesrates haben kann, dann bleibt dem Prä- 
fidenten nach meiner Auffassung, um die ihm gestellte und gegen jeder- 
mann durchzuführende Aufgabe der Aufrechterhaltung der Ordnung zu 
lösen, nichts übrig, als erforderlichen Falles denselben Gedanken in zwei 
verschiedenen Formen auszusprechen.“ 
Damit dürfte nichts anderes gemeint sein, als daß der Präsident das 
Recht, aus Gründen der Ordnung in die Debatte einzugreifen, den Mit- 
gliedern des Bundesrats gegenüber ebenso in Anspruch nimmt, wie gegen- 
über den Mitgliedern des Reichstags, nur mit dem Unterschiede, daß wenn 
möglich den Mitgliedern des Bundesrats gegenüber noch ein höheres Maß 
von Courtoisie angewendet wird. Eine derartige Abstufung aber ist weder 
in der Reichsverfassung begründet, noch liegt sie im Interesse des Reichs- 
tags, noch ist sie von dem Standpunkt, von dem der Präfident ausgeht, 
logisch gerechtfertigt. Wenn, wie der Präfident voraussetzt, die Mitglieder 
des Bundesrats im Gegensatz zu den Mitgliedern des Reichstags seiner 
Disziplinargewalt nicht unterworfen find, so muß daraus der Schluß 
gezogen werden, daß der Präfsident nicht befugt ist, fie in irgend welcher 
Form auf die Ordnung hinzuweisen und fie überhaupt aus dem Gesichts- 
punkt der Leitung der Debatte zu unterbrechen. Zu demselben Ergebnis 
kommt Arndt S. 151, Kommentar S. 149. Disziplinarbefugnisse des 
Präfidenten verneinen u. a. Zorn I S 237 A. 56, v. Seydel S. 208 III 
und Meyer § 132 A. 17 S. 452; letztere beiden halten jedoch Unter- 
brechungen der Bundesratsmitglieder durch den Reichstagspräfidenten für 
gerechtfertigt. 
Abgesehen von dem von v. Seydel a. a. O. angeführten Falle aus der 
Reichstagssitzung v. 20. Febr. 1895 (St. B. 1013) ist es auch in neuerer Zeit 
einige Male vorgekommen, z. B. in den Reichstagssitzungen v. 6. Mai 1904 
(St. B. 2717B8) und v. 24. März 1906 (St.B. 2265 C), daß Regierungs- 
vertreter Beschuldigungen, die im Reichstage erhoben wurden, mit scharfen 
Worten zurückwiesen und daß der Präfident des Reichstags dazu bemerkte, 
es sei auch für einen Regierungsvertreter unzulässig, einem Abgeordneten 
gegenüber den oder jenen Ausdruck zu gebrauchen. In beiden Fällen wurde 
aber diese Auseinandersetzung dadurch beendet, daß die Regierungsvertreter 
erklärten, keinen Abgeordneten gemeint zu haben. Dabei nahmen sie zu der 
Frage, ob die Unterbrechung berechtigt gewesen sei, ke ne Stellung. Ein 
konstitutionelles Präzedenz ist aus diesen Fällen nicht zu entnehmen.
	        
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