310 IV. Präsidium. Art. 12.
Für den Fall der Auflösung ergibt sich aus den durch Art. 25 bestimmten
Fristen eventuell die Notwendigkeit, daß die Berufung in demselben Jahre
wiederholt wird. Ob außer dem Fall der Auflösung der Reichstag in
demselben Jahre wiederholt berufen werden kann, ist in der Reichsverfassung
zwar nicht ausdrücklich bestimmt, doch ist das Recht des Kaisers hierzu
unbestritten; es ergibt sich daraus, daß die Verfassung nach dieser Richtung
keine einschränkende Bestimmung enthält — ebenso u. a. Laband 1 S. 317,
v. Rönne 1 S. 255 f., Arndt S. 130 — pgl. die bei v. Rönne 1 S. 256
A. 4 angeführten Präzedenzfälle.
III. Die Eröffnung.
Die Eröffnung bezeichnet den Anfang der Sitzungsperiode. Art. 77
Abs. 1 der preuß. Verfassungsurkunde bestimmt:
„Die Eröffnung und die Schließung der Kammern geschieht durch den
König in Person oder durch einen dazu von ihm beauftragten Minister
in einer Sitzung der vereinigten Kammern.“
Die Reichsverfassung enthält keine entsprechende ausdrückliche Vorschrift,
daß die Eröffnung und Schließung des Reichstags auch durch den Reichs-
kanzler geschehen könne. Es ist aber in der Praxis unbestritten, daß dies
zulässig ist, wie es überhaupt möglich ist, mangels entgegenstehender Ver-
fassungsbestimmungen, daß kaiserliche Befugnisse vom Kaiser der von ihm
bestimmten Persönlichkeit — unter Verantwortung des Reichskanzlers —
delegiert werden. Art. 12 insbesondere hat nur die Bedeutung, das Recht
des Kaisers im Verhältnis zum Bundesrat und Reichstag festzustellen,
nicht aber die persönliche Ausübung vorzuschreiben; ebenso Arndt S. 136,
dagegen v. Seydel S. 292.
Es entspricht der Praxis, daß bei der Eröffnung des Reichstags dessen
bevorstehende Tätigkeit mittels einer Thronrede erörtert wird. Natürlich
können auf Grund der selbstverständlichen Befugnis des Kaisers, politische
Angelegenheiten zum Gegenstande einer Erklärung zu machen, in der Thron-
rede auch andere, die Tätigkeit des Reichstags nicht unmittelbar berührende
politische Fragen behandelt werden. Für den Inhalt der Thronrede trägt
der Reichskanzler die politische Verantwortung. Daß dabei Erklärungen, die
der Kaiser namens der Verbündeten Regierungen abgibt — das sind vorzugs-
weise diejenigen, die sich auf Gesetzesvorlagen beziehen — und Erklärungen,
die der Kaiser im Gebiete seiner eigenen Machtvollkommenheit abgibt, z. B.
in Angelegenheit der auswärtigen Politik, unter Umständen für die Frage
der Zulässigkeit einer Kritik und der Wahrnehmung berechtigter Interessen
bei der Kritik nach verschiedenen rechtlichen Gesichtspunkten beurteilt werden
können, ist in dem Urteil des Reichsgerichts v. 15. Juni 1899 (1. Strff.
Bd. 32 S. 236) ausgeführt.
An dem durch die Einberufungs-Verordnung festgesetzten Tage ver-
sammeln sich die Reichstagsabgeordneten an der vom Kaiser bestimmten
Stelle — bisher stets in Berlin — der Kaiser oder der von ihm bestimmte
Kommissar verliest die Thronrede und darauf erklärt der Reichskanzler oder
sein Stellvertreter im Namen der Verbündeten Regierungen auf Befehl
des Kaisers den Reichstag für eröffnet.