316 IV. Präsidium. Art. 15.
allerdings enthalten, daß der Reichskanzler selbst eins der Mitglieder sein
muß, und da der Kaiser als solcher keine Mitglieder ernennen kann, der
Bundesrat vielmehr nur aus den Bevollmächtigten der Einzelstaaten besteht,
so bleibt nichts anderes übrig, als daß der Reichskanzler zum Bevoll-
mächtigten eines der Einzelstaaten ernannt werden muß. Es ist natur-
gemäß und liegt im Interesse der Sache, daß der Reichskanzler, da er ein
Mitglied des Bundesrats sein muß, zu den preußischen Mitgliedern gehört
und daß sich in seiner Person die zwischen dem Deutschen Kaiser und
dem König von Preußen bestehende Personeneinheit gewissermaßen fort-
setzt, aber eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit ist es nicht; mindestens
ist es durch keine positive Bestimmung der Verfassung vorgeschrieben. Die
Frage, ob der Reichskanzler preußischer Bevollmächtigter sein müsse, ist in
der staatsrechtlichen Literatur bestritten. Bejaht wird die Frage u. a. von
Laband! S. 254, 350 und Zorn I S. 160, verneint u. a. von Seydel S. 169
und Arndt S. 98. Laband und Zorn berufen sich darauf, daß wenn der
Reichskanzler die Stimme irgend eines anderen Bundesstaats führen würde,
sich der Fall ereignen könnte, daß die Regierung dieses Bundesstaats die
Ernennung zum Bundesratsmitglied zurücknähme, während der Kaiser dem
Reichskanzler als solchem die Entlassung nicht erteile; dann würde im Wider-
spruch zu Art. 15 der Reichskanzler seine Stellung als solcher behalten, aber
seine Stellung als Bundesratsmitglied verlieren. Hiergegen ist einzuwenden,
daß in einem derartigen Falle die Regierung des betreffenden Bundesstaats
gewiß nicht einseitig vorgehen, sondern sich mit dem Kaiser ins Einvernehmen
setzen würde, daß aber, wenn dies nicht der Fall wäre — d. h. wenn die
Frage nur nach der theoretischen Seite beurteilt werden soll — es entweder
dem Kaiser übrig bliebe, den Reichskanzler nunmehr zum preußischen Bevoll-
mächtigten zu ernennen oder dafür Sorge zu tragen, daß er von irgend einem
anderen Staate als dessen Bevollmächtigter ernannt werde. Jedesfalls liegt
in der Erwägung der möglichen Abberufung des Reichskanzlers aus seinem
Amt als Bundesratsbevollmächtigter kein staatsrechtlich zwingender Grund
gegen die hier vertretene Ansicht; mit der Abberufung des Reichskanzlers
aus dem Amt als Bundesratsbevollmächtigter würde allerdings eine für
sein Amt als Reichskanzler wesentliche Voraussetzung verloren gehen, aber
wenn nicht durch die ÜUbertragung der Stimme eines anderen Staates Ab-
hülfe geschaffen werden soll — und dies könnte jederzeit geschehen — so
würde eben die Entlassung des Reichskanzlers eine staatsrechtliche Notwendig-
keit sein, die sich sich aus dem Verlust seiner Eigenschaft als Mitglied des
Bundesrats ergibt. Aus allgemeinen politischen Gründen liegt natürlich
nichts näher, als daß der Reichskanzler, wenn er schon eine der Stimmen
der Einzelstaaten führen soll, die preußische führt. Eine unbedingte Not-
wendigkeit aber ist es nicht nur staatsrechtlich nicht, sondern auch nicht ein-
mal unter politischen Gesichtspunkten, denn der Reichskanzler kann seinen
Einfluß auf die Abgabe der preußischen Stimmen außerhalb des Bundes-
rats geltend machen, und dies dürfte sogar in der Regel geschehen. Hier
wird auf die Feststellung, daß die Verbindung des Reichskanzleramts mit
dem eines preußischen Bundesratsbevollmächtigten nicht notwendig ist, des-
halb besonderes Gewicht gelegt, weil darin ein wichtiges Anzeichen für die
ebenso staatsrechtlich wie politisch bedeutsame Tatsache liegt, daß das Haupt-
gewicht des Wirkungskreises des Reichskanzlers im Bundesrat nicht in der