Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

IV. Präsidium. Art. 15. 317 
Führung der preußischen Stimmen, sondern in der Wahrnehmung der In- 
teressen des Reichs liegt; vgl. die Erklärung, die Fürst Bismarck in der 
Reichstagsfitzung v. 25. Jan. 1873 abgab: 
„Der Reichskanzler, möge er nun ein Preuße oder Bayer sein, uns 
steht er nicht als Preuße oder Bayer, uns steht er nur als Deutscher 
gegenübeer 
sowie folgende Erklärung des Reichskanzlers Fürst Bülow aus der Reichs- 
tagsfitzung v. 1. Mai 1907 St. B. 1269 (bei Gelegenheit der Erörterung 
über die Braunschweigische Thronfolgefrage): 
„Ich bin im Bundesrat nur Organ des Reichs in seiner Gesamtheit 
und dabei stimmführender Vertreter Preußens, ich bin nicht Organ für 
die Vertretung der Einzelinteressen der verschiedenen Bundesregierungen 
und Bundesstaaten. Für diese Interessen sind die Bundesratsvertreter 
die gegebenen Organe."“ 
Dieser Erklärung ist beizustimmen, soweit es sich um die politische 
Stellung des Reichskanzlers im Bundesrat handelt. Es muß auch im 
Bundesrat jemand vorhanden sein, der die Interessen des Reichs, der Ge- 
samtheit, gegenüber den einzelnen Gliedern wahrnimmt, und es entspricht 
dem Geist der Verfassung, daß dies die für den Reichskanzler gegebene 
Rolle ist. In der Verfassung ist es äußerlich dadurch kundgegeben, daß der 
Reichskanzler für die Ausübung der ihm durch Art. 15 für den Bundes- 
rat zugewiesenen Funktionen ebenfalls durch den Kaiser, nicht durch den 
König von Preußen, ernannt wird; damit ist zum Ausdruck gekommen, 
daß der Reichskanzler auch im Bundesrat die kaiserlichen Rechte und 
Pflichten wahrzunehmen, also vorzugsweise die Interessen des Reichsganzen 
gegenüber den Interessen der einzelnen Bundesglieder zu vertreten hat. 
Der Reichskanzler wird dieser seiner politischen Aufgabe nur gerecht, wenn 
er sich im Bundesrat lediglich als Organ des Reichs und nicht als Organ 
Preußens fühlt. Um der formalen Vorschrift der Reichsverfassung zu ge- 
nügen, muß er allerdings auch die Stimmen eines Bundesstaats führen, 
und aus naheliegenden Zweckmäßigkeitsgründen ist dies bisher stets die 
Stimme Preußens gewesen, aber die Stellung des Reichskanzlers im Bundes- 
rat kommt klarer zum Ausdruck, wenn man sich vorstellt, daß diese Funktion 
für seine verfassungsmäßigen Aufgaben im Bundesrat nicht wesentlich ist. 
Daß die Verbindung des Reichskanzleramts mit der Führung der 
preußischen Stimmen verfassungsrechtlich nicht notwendig ist, hat Fürst 
Bismarck insbesondere in der Reichstagssitzung v. 13. März 1877 St. B. 127 
zum Ausdruck gebracht: 
„Der H. Vorredner (Abg. Hänel) meinte, es sei u. a. nicht möglich, 
daß der Reichskanzler nicht zugleich die preußische Stimme führe. Ich 
halte dies doch für möglich — ich halte es nicht für nützlich (d. h. die 
Trennung wäre nicht nützlich). Der Reichskanzler braucht nach der Ver- 
fafsung, wie ich glaube, gar nicht Mitglied des Bundesrats zu sein. Nach 
der Verfassung führt er den Vorsitz in demselben, und insoweit ein 
Vorfitz ohne Mitgliedschaft denkbar ist, wäre es auch möglich, daß er 
nicht Mitglied wäre."“ 
In dem letzteren Punkte hat sich Fürst Bismarck, wie fast allgemein 
anerkannt ist, geirrt. Ein Vorsitz ohne gleichzeitige Mitgliedschaft ist kaum 
denkbar, und die Reichsverfassung weist allerdings durch die Worte „jedes
	        
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