IV. Präsidium. Art. 15. 321
des Reichstages zum Durchbruch gekommenen Überzeugung, daß dem
Reichskanzler noch ein umfassender Wirkungskreis außerhalb des Bundes-
rats bevorstehe, hat unter dem Einfluß einer von dieser Neuregelung aus-
gehenden Rückwirkung Art. 15 eine andere Bedeutung bekommen. Man
hätte, wenn man dies vermeiden wollte, dem Wortlaut nur die außerordentlich
naheliegende Fassung zu geben brauchen:
„Der Vorsitz und die Leitung der Geschäfte im Bundesrate steht dem
Reichskanzler zu . ..“
Da dies unterblieb, so ist man berechtigt, den Art. 15 nach dem Wortlaut
auszulegen, den die Bestimmung nun einmal hat, zumal überwiegende und
dem konstitutionellen Geist der Verfassung entsprechende Zweckmäßigkeits-
gründe dafür sprechen. Es würde sonst nämlich überhaupt an einer Ver-
fassungsbestimmung fehlen, auf Grund deren der Reichskanzler als der Chef
der Reichsverwaltung angesehen werden könnte. Art. 17 insbesondere über-
trägt dem Reichskanzler die Leitung der Geschäfte nicht und enthält keine
Vorschrift, die sich als eine umfassende und erschöpfende Bestimmung der
Kompetenz des Reichskanzlers darstellt. Art. 17 bestimmt vielmehr nur,
daß kaiserliche Erlasse der Gegenzeichnung des Reichskanzlers bedürfen und
daß der Reichskanzler durch die Gegenzeichnung die Verantwortung über-
nimmt. Nach dieser Bestimmung, wenn sie durch Art. 15 nicht ergänzt
würde, dürfte der Reichskanzler ohne kaiserlichen Erlaß kein, sei es auch
unbedeutendes Geschäft der Exekutive ausführen. Nun können ihm aller-
dings durch kaiserliche von ihm gegenzuzeichnende Erlasse beliebig viele und
weitreichende General- und Spezialvollmachten erteilt werden. Aber es ist
nicht anzunehmen, daß die Einschränkung auf diese Möglichkeit im Sinne
der Verfassung liegt. Art. 15 enthält vielmehr eine verfassungsmäßige
Garantie dafür, daß die Leitung der Geschäfte nicht anderen, z. B. un-
verantwortlichen Stellen übertragen werden kann, eine Garantie, die im
Art. 17 nicht enthalten ist, weil dort nur der Spezialfall der kaiserlichen
Erlasse behandelt ist. Auch bei der hier vertretenen Auslegung des Art. 15
ergibt sich aus dieser Bestimmung keine Konkurrenz der Befugnifsse des
Reichskanzlers mit den auf Art. 11 und anderen Vorschriften der Reichs-
verfassung beruhenden Regierungsrechten des Kaisers. Der Kaiser hat und
behält das ihm durch Art. 11 R.V. übertragene Präsidium des Bundes
mit allen durch Art. 11 und andere Bestimmungen der Reichsverfassung
daraus abgeleiteten Konsequenzen. Der Reichskanzler ist und bleibt der
abhängige Beamte des Kaisers, der vom Kaiser ernannt und entlassen wird,
aber die Reichsverfassung schließt es durch Art. 15 aus, daß die Leitung
der Reichsverwaltung, die seit der Gründung des Reichs — unter dem
Oberbefehl des Kaisers und unbeschadet der Befugnis des Kaisers jederzeit
und in Geschäfte jeder Art durch einen Erlaß einzugreifen — stets vom
Reichskanzler ausgeübt worden ist, anderen Stellen als dem Reichskanzler
und seinen gesetzmäßigen, ebenfalls verantwortlichen Stellvertretern über-
tragen wird.
Es ist übrigens noch zu bemerken, daß von dem entgegengesetzten
Standpunkte aus die Worte „Leitung der Geschäfte“ im Art. 15 überflüssig
und bedeutungslos wären. Denn in dem Vorsitz des Bundesrats muß,
wenn irgend etwas, so die „Leitung der Geschäfte“ des Bundesrats in-
begriffen sein, und zwar kann es sich, da der Bundesrat nicht eine dem
Dambitsch, Deutsche Reichsverfassung. 21