IV. Präsidium. Art. 17. 355
pofitiver Verfassungsbestimmungen, die hingenommen werden muß, und
der innere Grund für diese Regelung und die Lösung des scheinbaren Wider-
spruchs liegt darin, daß die verfassungsmäßige Verantwortlichkeit des Reichs-
kanzlers eintritt, sobald die neu inaugurierte Politik aus dem Bereiche des
Programms in das Gebiet der Tatsachen übergeführt und von Versprechen
zu pofitiven Maßnahmen übergegangen wird, die einen kaiserlichen Erlaß
und damit die Gegenzeichnung des Reichskanzlers und seine juristische Ver-
antwortung erfordern. Eine weitere konstitutionelle Garantie liegt darin, daß
hier wie anderwärts die juristische Verantwortung nicht das Gesamtmaß
der Beteiligung des Reichskanzlers an der Reichspolitik erschöpft. Es geht
daneben her und weit über den Kreis seiner juristischen Verantwortung
hinaus seine politische Verantwortung. Sie wird im höchsten Maße praktisch,
wenn es sich in der Tat um die Kundgebung eines bestimmten Regierungs-
programms handelt, durch das die Richtung der Reichspolitik in einzelnen
Beziehungen oder in ihrer Totalität geändert werden soll. Es ist das
unbestreitbare Recht des Kaisers, die Reichspolitik, die zu bestimmen allein
schon durch die Auswahl der leitenden Reichsbeamten in seinem freien
Ermessen steht, auch durch programmatische Erklärungen vorzubereiten.
Weder irgendeine pofitive Bestimmung der Verfassung noch deren Gesamt-
tendenz schreibt dem Monarchen eine politisch zurückgezogene Haltung vor.
Er übt seine kaiserlichen Rechte aus, wenn er in den Gang der Staats-
geschäfte auch durch öffentlich kundgegebene Meinungsäußerungen eingreift.
In Angelegenheiten von geringer Bedeutung wird kaum der Monarch selbst
die Initiative ergreifen, in Angelegenheiten von großer Wichtigkeit ist dies
nicht nur möglich, sondern oft zur Tatsache geworden. Von praktischer
Bedeutung ist es besonders dann, wenn von dem eigenen und persönlichen
Auftreten des Monarchen namentlich den breiteren Volkskreisen gegenüber
eine werbende Kraft erwartet werden kann, die einer lediglich durch den
Reichskanzler vertretenen Aktion nicht in demselben Umfange innewohnen
würde. Bemerkenswerte Präzedenzfälle einer ohne Gegenzeichnung des Reichs-
kanzlers erfolgten programmatischen Kundgebung der kaiserlichen Politik
sind der Erlaß des Kaisers Friedrich vom März 1888 und die beiden
Erlasse des herrschenden Kaisers vom Februar 1890 über die Fortsetzung
der sozialen Arbeitergesetzgebung; vgl. auch die Ausführungen des Fürsten
Bismarck in der Reichstagssitzung v. 29. Nov. 1881 St. B. 87. Der Reichs-
kanzler muß in solchen Fällen allerdings für Handlungen einstehen, die
nicht nur nach der formellen, sondern auch nach der materiellen Seite nicht
seine eigenen find. Dann ist das wechselseitige Einverständnis über die für
das Reich zu führende Politik, d. i. die Voraussetzung, auf der die Be-
ziehungen zwischen Kaiser und Kanzler überhaupt beruhen, die einzige
materielle Grundlage für die übernahme der Verantwortung durch den Kanzler.
Besteht diese Voraussetzung nicht mehr und handelt es sich um Angelegen-
heiten von so großer Bedeutung, daß der Reichskanzler glaubt, den Eingriff
mit seiner politischen Verantwortlichkeit für den gesamten Gang der Reichs-
geschäfte — die juristische Verantwortlichkeit wird nicht berührt — nicht
vereinbaren zu können, so bleibt dem Kanzler, der nicht nur ein ausführendes
Organ, sondern der für die gesamte Reichspolitik verantwortliche Staatsmann
ist, nur der Rücktritt übrig.
23*