V. Reichstag. Art. 20. 397
ihnen mit Recht abgesprochen werden muß, ist es notwendig, daß diese
Bewegungen rechtzeitig und ausgiebig Luft und eine gewisse Bewegungs-
freiheit bekommen, damit nicht die historisch bestätigte, für die Staats-
sicherheit sehr gefährliche Erscheinung eintritt, daß Bewegungen, die im
Reiche der Ideen liegen, wenn sie unterdrückt find, nahezu unüberwindlich
werden, weil die geistige Macht des Unterdrückten gerade durch die Unter-
drückung erheblich gestärkt wird. Mag eine solche Bewegung allgemein-
politischer oder wirtschaftspolitischer Natur sein, mag fie bei irgend einer
einzelnen untergeordneten Frage oder bei den für die Welt- und Lebens-
anschauung entscheidenden Dingen einsetzen, was an der Bewegung lebens-
fähig und entwicklungswert ist, das zu entscheiden, bleibt der Verantwortung
der Regierung überlassen; gut und notwendig ist nur, daß die Regierung
von jeder Bewegung Kenntnis nehmen kann und wenn die aus dem all-
gemeinen, gleichen Wahlrecht hervorgegangene Volksvertretung nach der
Natur ihrer Zusammensetzung mehr den Drang hat, die dem Moment
entsprechenden Erwägungen zu betonen, so ist es Sache der Regierung
die zukünftigen Möglichkeiten ins Auge zu fassen und auch im Hinblick
auf sie ihre Handlungen einzurichten. Können danach nicht alle vor-
getragenen Wünsche, mögen sie auch von der Mehrheit des Parlaments
vertreten werden, sofort und in der angebrachten Form erfüllt werden,
so ist gleichwohl die Diskussion nicht wirkungslos; sie hat, wenn keinen
anderen, so doch in der Regel den Wert eines Gewitters, das sich ent-
laden hat.
Natürlich haben diese dem normalen Verlauf des politischen Lebens
entsprechenden Erscheinungen auch ihre bedenkliche Seite; sie tragen im
Falle der Übertreibung den Keim einer gefährlichen Entwicklung in sich.
Da Opposition und Kritik für angeregte öffentliche Debatten eine weit
bessere Unterlage liefern als einfache Zustimmung, so spielt in den Ver-
handlungen des Reichstags wie anderwärts der Pessimismus der öffentlichen
Meinung eine große Rolle. Wird der Pessimismus übertrieben, der Partei-
standpunkt, die Subjektivität von dem einzelnen zu sehr betont, die mögliche
ideale Auffassung der vorhandenen realen Verhältnisse zu sehr unterdrückt,
so tritt statt eines Ausgleichs der Gegensätze das Gegenteil, statt einer Be-
ruhigung der Gemüter deren Verbitterung ein und damit die Entfernung
der Volksvertretung von sachlicher und produktiver Tätigkeit. Es ist dann
die gegebene und durch den Geist der Verfassung wohl begründete Aufgabe
der Regierung, den Einfluß, den sie außerhalb und innerhalb der Volks-
vertretung besitzt, dazu anzuwenden, um das Parlament mehr der ihm
durch die Verfassung zugedachten Aufgabe, der einfachen Beschlußfassung
über die Regierungsvorlagen zuzuführen, wenn diese Aufgabe, die, wie
schon hervorgehoben, die politische Machtsphäre des Parlaments keineswegs
erschöpft, zu sehr in den Hintergrund zu treten droht. Fürst Bismarck hat
sich in seinen „Gedanken und Erinnerungen“ II Kap. 21 1III (am Ende) über
diese aus der überspannung des Parlamentarismus drohenden Gefahren näher
ausgelassen, dort andererseits aber auch darauf hingewiesen, daß Parlament
und Presse die unentbehrlichen Elemente der für die Regierung notwendigen
Kritik sind, daß Parlament und Presse diese Aufgabe jedoch nur dann er-
füllen können, wenn sie sich in gewissen Schranken halten und auf die
Selbstherrschaft verzichten.