398 V. Reichstag. Art. 20.
II. Das Wahlrecht.
a) Die allgemeine Wahl.
Art. 20 schreibt vor, daß die Wahl allgemein und direkt, und daß die
Abstimmung geheim sei. Das Wort „allgemein“ könnte ohne die im Wahl-
gesetz gegebene Erläuterung Zweifel offen lassen. Laband I S. 296 versteht
unter der Vorschrift allgemeiner Wahlen die Bestimmung, daß die Wahlen
der Regel nach im ganzen Bundesgebiet an demselben Tage vorzunehmen
sind. Die meisten anderen Schriftsteller, z. B. Arndt S. 116, Reincke S. 170,
v. Rönne I S. 241, v. Seydel S. 194, fassen die Bestimmung als den Hin-
weis auf, daß das Wahlrecht nicht an bestimmte Stände und Klassen oder
einen bestimmten Zensus gebunden sein soll. Der letzteren Ansicht ist der
Vorzug zu geben. Die Labandsche Ansicht ist zwar mit dem Sinn des
Wortes „allgemein“ verträglich und es spricht für sie besonders die Be-
stimmung des § 14 des Wahlgesetzes v. 31. Mai 1869 B. G. Bl. S. 145,
welche lautet:
„Die allgemeinen Wahlen find im ganzen Bundesgebiete an dem von
dem Bundespräsidium bestimmten Tage vorzunehmen.“
Jedoch ist es nicht wahrscheinlich, daß die grundlegende Bestimmung
der Gleichheit des Wahlrechts in der Reichsverfassung unerwähnt geblieben
sein sollte, um dafür einer verhältnismäßig so nebensächlichen Vorschrift
wie die über den einheitlichen Zeitpunkt der Wahlen Platz zu geben. Durch
Art. 20 sollte mit wenigen Worten das Prinzip des Wahlrechts kund-
gegeben werden, während die nähere Ausführung dem Wahlgesetz über-
lassen blieb, und zu den Grundlagen des Wahlsystems gehört vor allem
die Gleichheit des Wahlrechts. Die zeitliche Einheitlichkeit der Wahlen ist
eine reine Ausführungsbestimmung und da das Wort „allgemein“ nach
seiner sprachlichen Bedeutung einer mehrfachen Auslegung fähig ist, so kann
nur angenommen werden, daß im § 14 des Wahlgesetzes das Wort in
anderem Sinne gebraucht wurde als im Art. 20. Die gegenteilige Ansicht
würde zu dem Ergebnis führen, daß die Gleichheit des Wahlrechts ohne die
für Verfassungsänderungen im Art. 78 R.V. bestimmte Erschwerung ab-
geändert werden kann.
Die Erläuterung zu der Allgemeinheit des Wahlrechts gibt 8§ 1 des
Wahlgesetzes, wonach jeder Deutsche, der das 25. Lebensjahr zurückgelegt
hat, in dem Bundesstaate wahlberechtigt ist, in welchem er seinen Wohnfitz
hat. Das Wahlrecht ruht nach § 2 für Personen des Soldatenstandes, so-
lange sie sich bei der Fahne befinden. Die Militärbeamten gehören hierzu
nicht, wie durch § 49 Abs. 1 des Reichs-Militärgesetzes v. 2. Mai 1874
R.G.Bl. S. 45 bestätigt ist. Ausgeschlossen von der Berechtigung zum
Wählen sind nach § 3 Personen, die unter Vormundschaft oder Kuratel
(Pflegschaft) stehen oder über deren Vermögen das Konkursverfahren eröffnet
ist, ferner Personen, denen infolge rechtskräftigen Erkenntnisses der Voll-
genuß der staatsbürgerlichen Rechte entzogen ist, für die Zeit der Entziehung,
sofern sie nicht in diese Rechte wieder eingesetzt find. Der Empfang einer
Armenunterstützung steht in den meisten Fällen der Wahlberechtigung jetzt
nicht mehr entgegen, da die entsprechende Bestimmung des § 3 des Wahl-
gesetzes durch das Reichsgesetz v. 15. März 1909 R.G. Bl. S. 319 wesentlich
eingeschränkt ist. § 7 des Wahlgesetzes bestimmt: