400 V. Reichstag. Art. 20.
Wähler gestimmt hatten, führen konnten. Die sich hierauf beziehenden Vor-
schriften wurden daher vom Bundesrat mit Zustimmung des Reichstags —
die gemäß § 15 Abs. 2 des Wahlgesetzes für jede ÄAnderung des Wahl-
reglements erforderlich ist — u. d. 28. April 1903 R.G.Bl. S. 202 dahin
abgeändert, daß die Wahlzettel, die nunmehr eine bestimmte Größe haben
sollen, in einem mit amtlichem Stempel versehenen Umschlage, der erst im
Wahllokale selbst dem Wähler verabreicht wird, abgeliefert werden müssen
und daß der Wähler in einem Nebenraum oder an einem Nebentisch seinen
Stimmzettel mit diesem Umschlag verfieht.
Diese Verordnung des Bundesrats fällt in eine Zeit, in der sich
die von jeher in weiten Kreisen vorhandenen Bedenken gegen die geheime
Stimmabgabe auf Grund realpolitischer Erfahrungen verstärkt hatten. Die
gegen die neue Maßregel erhobenen Angriffe sind aber im Hinblick auf das
geltende Verfassungsrecht nicht begründet. Die Maßregel wird vollkommen
verständlich, wenn man die Notwendigkeit anerkennt, daß das geltende Recht
zur Wahrheit gemacht werden muß, auch in Fällen, in denen sich unter
politischen Gesichtspunkten manches gegen die Zweckmäßigkeit dieser Rechts-
vorschriften einwenden läßt. Der frühere Zustand, nach welchem es möglich
war, daß mit gewissen, von dem Wahlreglement nicht getroffenen, weil bei
dessen Erlaß nicht vorausgesehenen Machinationen die Art der Abstimmung
doch erkennbar war, stand im unmittelbaren Widerspruch mit Art. 20; vygl.
die Ausführungen des Staatssekretärs des Innern Graf Posadowsky-Wehner
in der Reichstagssitzung v. 23. Jan. 1903 St. B. 7509 BC.
Mit Recht hat ferner der Bundesrat aus der Verfassungsbestimmung
den Schluß gezogen, daß in dem Wahlgeheimnis ein unverzichtbares Recht
des Wählers liegt und hat demzufolge in dem Wahlreglement — § 19 —
Stimmzettel, aus denen eine Verletzung des Wahlgeheimnisses ersichtlich ist,
z. B. weil fie mit einem Kennzeichen, sei es auch von dem Wähler selbst,
versehen sind, für ungültig erklärt. Ferner ist allseitig anerkannt, daß mit
Rücksicht auf die Vorschrift der „geheimen Abstimmung“ im Art. 20 jede
obrigkeitliche, namentlich eine zeugeneidliche Vernehmung von Wählern über
die Person des Gewählten unzulässig ist; vgl. St. B. des Reichstags 1874
Seff. 1 S. 724, v. Jagemann S. 122, v. Seydel S. 194.
III. Die politischen Beweggründe
für die Einführung der allgemeinen direkten und geheimen Wahl.
a) Die Bedenken gegen das preußische Dreiklassen-System.
Gerade dem V. Abschnitt der Reichsverfassung über den Reichstag ist
es charakteristisch, daß er, abgesehen vom Art. 20, ziemlich genau, zum
großen Teile sogar wörtlich der preußischen Verfassung entnommen ist.
Art. 21— 32 R.V. haben ausnahmslos ihre Vorbilder in der preußischen
Verfaffungsurkunde, und hierin liegt ein bemerkenswerter Gegensatz zu allen
anderen Bestimmungen der Reichsverfassung; vgl. Laband 1 S. 269 A. 1.
Der Grund hierfür ist klar. Die anderen Bestimmungen der Verfassung
beziehen sich fast durchweg auf den bundesstaatlichen Charakter des Reichs.
Sie ordnen das Verhältnis zwischen dem Reich und den Einzelstaaten und
regeln die Kompetenz des Reichs gegenüber den Einzelstaaten. Der Ab-
schnitt über den Reichstag allein erstreckt sich nicht auf das Verhältnis zu