450 V. Reichstag. Art. 27.
können sich nur aus dem Vortrage des Berichterstatters und der Debatte
ergeben. Doch bleibt es unkontrollierbar, welche Motive den einzelnen
bei der Abstimmung bewogen haben. Die Verhandlungen des Reichstags
enthalten ein umfangreiches Material über die Wahlprüfung und danach
hat sich bereits eine ziemlich feststehende Praxis mit einheitlichen Grund-
sätzen gebildet, die der Reichstag, soweit die Verhandlungen es erkennen
lassen, ohne Rückficht auf seine parteipolitische Zusammensetzung und ohne
Rücksicht auf die Fraktionszugehörigkeit des Abgeordneten, gegen den das
Verfahren sich richtet, anzuwenden pflegt, natürlich mit gelegentlichen Ab-
weichungen, die auch bei jeder rechtsprechenden Behörde vorkommen und
durch die Freiheit der Überzeugung des einzelnen zu erklären sind. Einer
solchen gleichmäßigen Praxis bedarf es umsomehr, als es an einem ge-
schriebenen Recht für die Entscheidungen in Wahlprüfungsangelegenheiten
fehlt. Verstöße gegen positive klare Vorschriften des Wahlgesetzes und Wahl-
reglements, z. B. Verletzungen des Wahlgeheimnisses, der formellen Vor-
schriften über Zeit und Ort der Wahlhandlung, Zusammensetzung und
Tätigkeit des Wahlvorstandes spielen in der Praxis nicht die Rolle wie
Anfechtungen, die auf Wahlbeeinflussungen gestützt werden. In dieser
Richtung fehlt es, abgesehen von dem seltenen Falle einer nach §8§ 107 bis
109 Str.G.B. strafbaren Handlung, an ausdrücklichen gesetzlichen Bestim-
mungen. Die Praxis des Reichstags ist gegenüber dem Verdacht von
Wahlbeeinflussungen streng, namentlich wenn es sich um Einwirkungen
handelt, die von Beamten ausgehen, und besonders wird nach dieser Praxis
von den Beamten, die Polizeigewalt ausüben, verlangt, daß sie nicht ihre
amtlichen Machtbefugnisse für die Beeinflussung der Wahlbewegung einsetzen.
Bei der Prüfung werden im allgemeinen nur die rechtzeitig angezeigten
Fehler und Mängel des Verfahrens in Betracht gezogen, sowie diejenigen,
die sich aus den Akten ohne weiteres ergeben. Doch ist der Reichstag
daran nicht gebunden und kann die Wahlhandlung auch nach inquisitorischen
Grundsätzen prüfen; vgl. Verhandl. des Reichstags v. 27. Febr. 1902
St. B. 4432 A. Das Verfahren bei der Wahlprüfung regeln §8§ 3 ff. der
G.O. Mitbezug auf die im § 7 bestimmte Präklusivfrist ist zu bemerken,
daß es dem materiellen Recht, dem öffentlichen Interesse und dem all-
gemeinen Rechtsbewußtsein widersprechen würde, wenn Wahlen, deren
Ungültigkeit evident ist, als gültig behandelt werden müßten, weil die
Gründe der Ungültigkeit erst verspätet aufgedeckt sind. Sollte in derartigen
Fällen ein Beschluß des Reichstags nicht die davon zu erwartende Wirkung
ausüben, daß der Abgeordnete, dessen Wahl zu spät beanstandet wird, auf
Veranlassung des Reichstags sein Mandat freiwillig niederlegt, und die
durch §7 der G.O. sich ergebenden formalen Bedenken unüberwindlich
sein, so würde nur übrig bleiben, daß der Reichstag, um seinen Beschluß
durchzusetzen, vorher die Geschäftsordnung abändert; vgl. Arndt S. 126.
B. Die Geschäftsordnung.
I. Die Regelung des Geschäftsganges.
Der Reichstag regelt seinen Geschäftsgang durch eine von ihm selbst
erlassene Geschäftsordnung und ist hierbei an keine anderen als an die
durch die Verfassung gegebenen Schranken gebunden. Die bestehende