V. Reichstag. Art. 28. 453
entgegenzuwirken. Einen unmittelbaren Zwang zum Erscheinen oder Strafen
für das unentschuldigte Ausbleiben oder Mittel gegen eine Obstruktion, die
zum Gegenstande hat, durch absichtliche Fernhaltung eines Teils der Ab-
geordneten Beschlußunfähigkeit herbeizuführen, gestattet weder die Verfassung
noch die G.O. des Reichstags; Anderungen der letzteren würden nach dieser
Richtung nicht leicht mit den Bestimmungen der Verfassung in Einklang
zu bringen sein; val. Art. 21 VII S. 417.
II. Die Kontrolle der Beschlußfähigkeitsziffer.
Die Verfassung enthält weder im Art. 28 noch anderwärts eine Be-
stimmung darüber, wie die Anwesenheit der zur Beschlußfähigkeit erforder-
lichen Anzahl von Reichstagsmitgliedern festzustellen ist. Aus der Vorschrift
des §54 der G.O. ergibt sich eine Präsumption für die Beschlußfähigkeit,
die nur durch Auszählung oder namentliche Abstimmung widerlegt werden
kann; vgl. Laband 1 S. 323, v. Seydel S. 210. Erfahrungsgemäß wird die
Feststellung der Beschlußunfähigkeit in manchen Fällen nicht getroffen, in
denen tatsächlich die erforderliche Zahl von Abgeordneten nicht vorhanden
ist, und der Bundesrat hat bisher diese Feststellung als eine innere An-
gelegenheit des Reichstags behandelt, zu der Stellung zu nehmen er keine
Veranlassung fand, selbst wenn der klare Augenschein gegen die Beschluß-
fähigkeit sprach. Ob dies mit Art. 28 in Einklang zu bringen ist, ob der
Bundesrat nicht vielmehr verpflichtet wäre, Reichstagsbeschlüsse zu bean-
standen, die unter offenbarer Verletzung des Art. 28 zustande gekommen
find, ist mindestens zweifelhaft. Wenn die Frage der Beschlußfähigkeit
nur eine innere Angelegenheit des Reichstags wäre, hätte die Verfassung
nicht im Art. 28 darüber entschieden; vgl. Laband 1 S. 3223 A. 2, Arndt
S. 150, v. Jagemann S. 135 f., Reincke S. 182 b, dagegen v. Rönne I
S. 259 und v. Seydel S. 210, die der Ansicht sind, daß nur dem Reichs-
tag das Recht zu einer entsprechenden Feststellung zugeschrieben werden
könne. Zu den aus Art. 28 hiergegen sprechenden Bedenken kommt, daß
die G.O. nicht einmal dem Reichstag die Pflicht zur Feststellung unbedingt
auferlegt, sondern nur dann, wenn Anträge nach dieser Richtung gestellt
werden, sodaß es im Bereich der Möglichkeit liegt, daß durch eine aus-
drückliche oder stillschweigende Übereinkunft die Kontrolle über die Ein-
haltung der Vorschrift des Art. 28 ganz ausgesetzt wird. Real liegen
allerdings die Verhältnisse nicht soweit ab von dem durch die Verfassung
vorgeschriebenen Zustand, weil darauf gerechnet werden kann, daß bei allen
Vorlagen von einiger Bedeutung, die nicht im Reichstag allseitige Zu-
stimmung finden, die in der Minderheit befindliche Partei sich die Gelegenheit
nicht entgehen lassen wird, durch Bezweifelung der Beschlußfähigkeit die
Entscheidung hinauszuschieben. Bei Vorlagen aber, an denen im Reichs-
tage von keiner Seite Interesse genommen wird oder die bei keiner Partei
Widerspruch begegnen, ist der Verstoß gegen die Verfassung nur formaler
Natur und verletzt keine erheblichen Interessen, weder solche der Regierung
noch der Reichstagsminderheit noch des durch den Reichstag vertretenen
Volks. Immerhin bleibt es de lege kerenda erwünscht, daß die Verfassung
in Einklang mit den tatsächlichen Verhältnissen gebracht wird, d. h. mit
dem, was unter normalen Verhältnissen vom Reichstage geleistet wird,