454 V. Reichstag. Art. 28.
damit nicht länger Verstöße gegen die Verfassung, die sich in breitester
Offentlichkeit abspielen, geduldet werden; vgl. Müller in Hirth's Annalen
1902 S. 715.
III. Die Mindestziffer bezieht sich nicht auf Beratungen.
Die Anwesenheit der Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder
ist durch Art. 28 nur für die Beschlußfassung vorgeschrieben, gilt also nicht
für die Beratung. Die Debatte darf in der Anwesenheit der kleinsten Zahl.
der Abgeordneten geführt und selbst nach geschäftsordnungsmäßiger Fest-
stellung der Beschlußunfähigkeit noch fortgesetzt werden. Dies hat der
Reichstag i. J. 1868 anerkannt; vgl. St. B. v. 4. Juni 1868 S. 249, 457 ff.
und Anlagen 1868 Bd. II S. 398 Nr. 110; ebenso Laband 1 S. 328,
v. Seydel S. 210, v. Rönne I S. 258, Arndt S. 150. Auch der preußische
Landtag hat dieselbe Praxis auf Grund des Art. 80 der Verf. Urk., der das
Vorbild des Art. 28 R.V. war. Im Reich wie in Preußen wird also die
Beratung und Beschlußfassung nicht als ein einheitliches Ganze aufgefaßt;
die entgegengesetzte Ansicht wurde einmal bei den Verhandlungen über den
Zolltarif in der Reichstagssitzung v. 7. Nov. 1902 St B. 6207f., 6232 mit
einer dem Wortlaut des Art. 28 widersprechenden Begründung vertreten.
Ob übrigens der Reichstag in der Lage wäre, die gegenwärtige Praxis
durch die G.O. einseitig zu ändern, ist zweifelhaft. Denn da es sich um
eine Materie handelt, die in das Gebiet der Verfassungsbestimmungen ge-
zogen ist, so würde wohl nur ein die Verfassung änderndes Reichsgesetz die
bisherige auf Art. 28 gestützte Auslegung beseitigen können; anderer Ansicht
ist v. Rönne 1 S. 259 und v. Seydel S. 210.
VI. Die Berechnung der Stimmenmehrheit.
Der Wortlaut des Art. 28 läßt keinen Zweifel darüber, daß Stimmen-
mehrheit im Sinne des ersten Satzes nur die Mehrheit der Abgeordneten
bedeutet, die an der Beschlußfassung teilgenommen haben. Denn sonst
hätte schon im ersten Satz von der Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der
Mitglieder gesprochen werden müssen und der zweite Satz wäre überflüssig
gewesen, da es dann einer Bestimmung, daß die Anwesenheit dieser Mehr-
heit zur Gültigkeit der Beschlußfassung erforderlich ist, nicht bedurft hätte,
Praxis und Theorie stimmen sogar auch darin überein, daß die Mehrheit
der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder an der Abstimmung überhaupt nicht
teilgenommen zu haben braucht; es genügt vielmehr, daß diese Mehrheit
zur Beschlußfassung anwesend war, selbst wenn ein Teil der Anwesenden
sich der Abstimmung enthalten haben sollte. Deshalb werden anwesende
Abgeordnete, die sich der Abstimmung enthalten haben, bei der Frage der
Beschlußfähigkeit mitgezählt; vgl. die Erklärung des Reichstags-Präfidenten
Simson in der Reichstagssfitzung v. 13. Mai 1872 St. B. 333; v. Seydel
S. 209, Arndt S. 150, v. Rönne I S. 258.
Da zur Gültigkeit eines Beschlusses Stimmenmehrheit erforderlich ist,
ergibt sich von selbst, daß bei Stimmengleichheit der Antrag abgelehnt ist.
Zum Überfluß ist es durch § 51 G.O. ausdrücklich bestimmt.
Es wird nur über ja oder nein abgestimmt. Der Präfident hat nach
8 51 G.O. die Fragen so zu stellen, daß in der Antwort ja oder nein